Evelyne Marti

Die Gletscherspalte

Kurzgeschichte
 
 "Spring!" Gähnend öffnete sich die Gletscherspalte vor Alissa. "Spring!", schrien die Vordermänner ungeduldig im widerhallenden Chor.
 
"Ich kann nicht!" Warum denn nicht? "Spring jetzt endlich! Tu es!", wüteten die rauen Männerstimmen durch den grauen Berg.
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"Nein! Es geht nicht. Ich schaffe es nicht! Meine Beine sind zu kurz. Ich werde abrutschen, das weiß ich ganz genau! Ich weiß es, ich fühle es! Glaubt mir doch! Der Abstand ist zu groß und der Landeplatz für die Füße hat sich durch eure Sprünge geneigt. Ich werde nach hinten fallen und mich nicht halten können. Ich weiß, dass ich das abschätzen kann. Ich kenne mich und weiß, wie weit ich springen kann. Ich werde fallen! Ich weiß es!"
 
"Du bist doch angeseilt und durch uns gesichert! Spring!" Immer Ärger mit den Kleinen. Hätten sie nur die 14-Jährige nicht mitgenommen auf die Tour. Das Wetter verdüsterte sich. Besorgt spähte der missgelaunte, dunkelbärtige Anführer der Seilschaft zum gerade erst erklimmten Bergkamm, den sie jedoch sofort wieder eilig verließen, um nun schnell den Abstieg über den einzig noch stabilen Gletschersaum zu schaffen, bevor die Wetterverhältnisse auch diesen zustöberten. Bald würde der Gletscher nicht mehr sicher sein. Sie mussten sich beeilen. "Spring, Mädchen! Das wird schon!" Er hatte sie falsch eingeschätzt. Warum traute sie sich nicht, wo sie sich doch noch am Vortag gleich beim ersten Versuch wie ein Profi an der Bergwand abseilte und sich auf Anhieb zielsicher im rechten Winkel zur Wand stellte, während die anderen Anfänger herumzappelten. Deshalb durfte sie mit auf die Tour. Sie besaß Mut und Geschick. Und jetzt das ...
 
"Jens, hau den Eispickel an einer gut gefrorenen Stelle möglichst tief rein und stelle eine fixe Sicherung für sie her, sonst kommen wir hier nie mehr weg!"
 
Unsicher tastete Jens den Gletscherschnee ab, hämmerte unbeholfen den Stil des Eispickels in den Eisboden und windete das Sicherungsseil um den Eispickel. Er war zwar einige Jahre älter als Alissa, doch wie sie Anfänger. Gerade erst noch übten sie am Vortag die unterschiedlichen Knoten miteinander. Dabei sprachen sie auch über ihre Ansichten, das Leben, den Tod, und Gott. Er glaubte nicht an Gott. Sie schon. Es verband sie nicht viel, nur dieses Seil und ihr Einzelgängertum in der Gruppe. Sie war mit Abstand die Jüngste und wurde ausgegrenzt und er wollte nur auf Tour. Die meditative Gemeinschaft der Kursteilnehmer unter dem religiösen Vorzeichen der christlichen Kirche war ihm lästig, während Alissa mit kindlich leuchtenden Augen von ihren Erlebnissen mit Gott erzählte und deshalb noch mehr gemobbt wurde von den älteren Mädchen, bis der alte, erfahrene Bergführer, ein tiefgläubiger Katholik, sie vor versammelter Mannschaft in Schutz nahm und ihre Ausdauer am Berg lobte.
 
Das ließ die anderen verstummen, denn dieser Mann war für alle erkennbar etwas Besonderes. Er erzählte ihnen von der richtigen Art des Wanderns, die nicht müde mache. Ja, der alte Tanner war ein Bergler durch und durch, er hatte von Kind an die Weisheit der Berge in sich aufgenommen und kannte sich aus, nicht nur in den Bündner Alpen, sondern auch in den unzählig verzweigten Berghöhlen der menschlichen Seele. Wer weiß, womöglich verstand er sogar die Sprache der Tiere in seiner bedächtigen Art, wenn er seinen Blick anhob und den Vogelflug oder auch nur das Sirren der Mücken beobachtete. Nichts schien ihm zu entgehen, als würden ihm die Tiere die genauen Witterungsverhältnisse mitteilen, besser als jede Radartechnik.
 
Wenn er jetzt nur hier wäre! Aber er führte die Gruppe A mit den Fortgeschrittenen irgendwo auf dem Grenzgrat zwischen der Schweiz und Italien auf einen noch höheren Berg als diesen hier, dessen Namen so merkwürdig klang, dass er es sich gar nicht erst merken konnte. Das wollte er später noch auf der Karte nachschauen, die lag auf seiner Zeltmatte im Tal unter ihnen. Es war alles viel komplizierter, als er gedacht hatte. Er fühlte sich überfordert. Was wenn Alissa wirklich in die Gletscherspalte glitte und er sich nicht stabil halten konnte? Bliebe der Eispickel im gefrorenen Schneeboden eingepflöckt oder würde Alissa ihn in den Abgrund des Gletschers mitreißen?
 
"Du kannst jetzt springen, Alissa!" 
 
Alissa hob den Kopf und schielte misstrauisch zu Jens, der mit seiner schmächtigen Gestalt und der deutlich spürbaren Verwirrtheit wenig belastbar erschien. Ob er den Eispickel auch wirklich an einer bruchsicheren Stelle in die Gletschereisdecke eingehämmert hatte? Oder war es nur zugepampter, angefrorener Schnee, der sich lawinenartig lösen könnte? Würde der Eispickelstil ausreichend verkeilt im Boden haften bleiben ohne Widerhaken?
 
Wenn doch nur der alte Tanner hier wäre und ihr beistände! Dann hätte sie Vertrauen fassen können. Bei ihm ja. Aber bei dieser Seilschaft verhielt sich niemand so, als wisse jemand von ihnen wirklich Bescheid. Allein schon ihre besorgniserregenden Blicke zum Bergkamm und der für sie unerwartete Wetterumschwung, der sie plötzlich wie eine aufgejagte Hühnerschar aufschrecken ließ, nährte ihr Angst. Wie konnte das nur passieren? Warum wussten sie auf einmal selbst nicht mehr weiter, wo sie doch die Bergtour leiteten? Dass sie nun diesen gefährlichen Weg über die Gletscherspalte nehmen mussten, war ursprünglich nicht vorgesehen, das war ihren erregt gestikulierenden Gesprächen anzusehen, bevor sie sich auf diese Route einigten. Es schien jedoch der einzige Weg zu sein, wobei die Stimmung in der Gruppe verriet, welch großes Risiko sie eingingen, auch wenn der Bärtige und der Italiener mit dem Bubengesicht an der Spitze der Seilschaft versuchten, dem ganzen Vorhaben einen harmlosen Touch zu geben. Doch ihre Blicke zuckten wild in alle Windrichtungen, sie fühlten sich getrieben und übertrugen ihre Aufgeregtheit auf die Gruppe, die geschlossen und entmündigt stumm ihrem Zickzack-Kurs folgte. 
 
"Spring, Alissa, spring!" trug der Wind ihr aufkreischend zu. 
 
Der alte Tanner hätte ihr jetzt gewiss schätzungsweise sagen können, wie tief diese zum Teil schneebedeckte Spalte sich durch den Gletscher zog, hätte wohl auch den Namen dieses schluchtförmigen Einschnitts nennen können. Womöglich hätte er eine sichere Sprungstelle gefunden oder aus Erfahrung eine solche nennen können. Seinem geübten Blick wären die auslotbaren Möglichkeiten eines sicheren Übertritts ersichtlich gewesen, so dachte sie für sich, während sie unschlüssig vor der Kluft zu ihren Füßen verharrte, unbeweglich, selbst zu Eis erstarrt, von der Angst gelähmt. Angst um die eigene Existenz, dem verschlingenden Todesschlund. Der alte Tanner hätte sie sicher dort rübergebracht. Bei ihm wäre es nie zu dieser Situation gekommen. Doch war er nicht da, sie befand sich allein hier, allein auf sich gestellt. Er stand auch nicht drüben, er prüfte nicht den gefrorenen Schneeboden oder den Eispickel, ob dieser ordentlich eingehauen stak und das Seil gut um den Eispickel gewunden sie vor dem Fall in den allesverschlingenden Rachen bewahren konnte. Er war nicht da, um sie zu beschützen. Er konnte ihr keinen Mut zusprechen, nicht seinen Sachverstand aufbieten, um sie davon zu überzeugen, den Sprung zu wagen. Stattdessen wartete auf der anderen Seite der wankelmütig im Schnee stapfende Jens mit kaputter Schneebrille, auf die er fiel, als sich seine Schneehaken an den Schuhen ineinander verzahnten und er über ein paar Geröllsteine stolperte.
 
Was würde der alte Tanner jetzt tun? Sie sah ihn innerlich vor sich mit der steten Mahnung an die Teilnehmer der Tour, nicht zu schnell zu gehen. Nur wer den ganzen Tag wandern könne, habe den richtigen Schritt gefunden, erklärte er. Du gehst zu rasch. Sei behutsam und langsam, dafür immer im Tritt. Bleib nicht stehen, geh voran, langsam und im Rhythmus eines ruhigen Herzschlags. Treib Dich nicht an, aber bleib auf den Beinen und bewege Dich, nur nicht zu hastig. Werde eins mit Dir selbst und Deinem Schritt, Herzschlag für Herzschlag, bleibe im Jetzt Deiner Bewegung. Trete nicht aus Dir selbst heraus, bleib in Dir, in Dir und Deinem Rhythmus. Denke, fühle und bewege Dich als Einheit.
 
Der alte Tanner meinte noch anerkennend, sie habe einen guten Schritt, als würde er daran das Wesen eines Menschen ablesen können, wie ein Spurenleser den Fährten der Waldtiere folgt. Und tatsächlich war er nicht der Erste, der dies an ihr erkannte. Es schien sie wie eine unsichtbare Aura zu umgeben, von ihr selbst kaum wahrgenommen. Alle ihre Turnlehrer holten sie nach vorne zur Präsentation, wenn es um das Erlernen von Tanzschritten oder Turnübungen ging, mit dem Hinweis, sie habe ein vollendetes Gefühl für den richtigen Rhythmus, obwohl ihr das eher peinlich war und sie lieber unscheinbar in der hintersten Reihe verharrt wäre. Doch blieb es nicht bei diesen unfreiwilligen Vorführungen, sondern auch bei Radtouren der Klasse wurde sie jeweils von der Fahrkolonne an die Spitze gesetzt, weil sie immer den richtigen Fahrrhythmus fand, worin sich die anderen synchron einschwingen konnten. Vielleicht war diese Fähigkeit ein Überbleibsel des klassischen Ballettunterrichts in Kindertagen, den sie aber als Einschränkung erlebte und frühzeitig abbrach. Noch Jahre danach schlief sie mit dem Bild einer sich unentwegt um die eigene Achse drehenden Ballerina, wobei ihr ganz elend wurde, so wie jetzt vor dem dunklen Abgrund, der vor ihr klaffte. Und da sollte sie rüberspringen. Ihre Beklemmung wollte nicht weichen und fror sie fest.
 
Und doch musste sie es tun. Es gab keinen anderen Weg, auch wenn sie keinen festen Halt fände auf der anderen Seite und es sie unweigerlich zurückschöbe im abgewinkelten Aufschlag der Füße. Sie müsste mit dem Seil, das nun fix gesichert war, gegensteuern, eigentlich ähnlich wie am Vortag beim Abseilen, wo sie sich bewusst mit dem Kopf nach unten fallen ließ am Seil, denn nur so konnte sie den rechten Winkel zum kegelförmigen Felsrelief beibehalten, ohne plötzlich in der Luft zu hängen. Sie dachte auf einmal an ihren Lieblingsbibelvers Jesaja 40 Vers 31: Die auf den Herrn vertrauen, gewinnen neue Kraft, sodass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, sie laufen und nicht matt werden, sie wandeln und nicht müde werden. Ja, so ein Adler müsste sie jetzt sein ...
 
Alissa versuchte, sich innerlich zu sammeln und sich zu beruhigen und dabei auf ihre Intuition zu achten, um Kraft zu bündeln für die beängstigende, lebensbedrohliche Situation, der sie sich nun ohne Vermeidungshaltung stellen musste. In gewisser Weise erinnerte es sie an ihren ersten Versuch auf dem Sprungbrett, die Hemmung empfand sie damals ähnlich, da es ihr erster Sprung war. Die Konzentration auf ihre innere Mitte ließ sie ruhiger werden, ein Gewahrwerden und Innesein im Jetzt, Einheit von Körper und Geist, wo sie und ihre Bewegung eins wurden, bereit zum Sprung aus der inneren Mitte ihres Seins, koordiniert und zielsicher das Richtige umsetzend, um zu überleben, Lebensinstinkt.
 
Im einem breit ausholenden, dynamischen Weitsprung federte Alissa an der besagten engen Stelle behände zurück, veränderte wie eine Turmspringerin ihre Körperausrichtung zur Kante, um im rechten Winkel von der schmalen, abfälligen Landeposition aus einen zweiten Sprung zu setzen, festgekrallt am Seil, woran sie sich im wirbelnden Hochsprung aufschwang ans Ziel. Geschafft!
 
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