Evelyne Marti

Die Marmorstatue

Kurzgeschichte
 
Dereinst war sie lebendig, wird erzählt ...
 
... die Marmorstatue mitten im Park ...
 
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... doch wusste niemand Näheres zu berichten, die alte Sage dem ewigen Vergessen anheimfallend. Nur dass die steinerne Dame ehedem dort stand auf dem Bug des schiffsförmigen Springbrunnens und gen Westen blickte, entrückt zu fernen Ufern weisend, vorauseilend  über ihre unsichtbare Mannschaft wachend.
 
Die Zeiten konnten ihr scheinbar nichts anhaben, ihr Gesicht wie vordem ausdruckslos geglättet. Doch bei näherem Hinsehen wurde ihre Hinfälligkeit offenkundig: An ihrem Kopf fehlte ein Stück, wie erschlagen und doch sich aufrecht haltend, eine nicht gegebene Unversehrtheit ausstrahlend, den Besuchern Trost spendend durch ihre immerwährende Gegenwart und visionäre Haltung des Aufbruchs.
 
Manch einer, der sich im Kummer an sie lehnte und sie von seinen Tränen kosten ließ, ohne dass sich ihr Antlitz jemals dadurch zu einer Regung des Empfindens veranlasst sah. Was auch immer in ihrem Gesteinsinnern beseelt sein mochte, es blieb verborgen für die Außenwelt.
 
Doch ihr Inneres bebte. Sie fühlte den Schmerz in ihrer Brust, der sie zerriss, ein flatterndes Herz, das aufkeimte und sich aus dem Gestein freizukämpfen anschickte, erdrückt, sich ängstlich aufblasend wie ein samtig weicher Ballon, Raum fordernd, beklemmend und doch so wundervoll pochend lebendig in einer bis anhin nie gefühlten Sehnsucht.
 
Doch wer wird davon Kenntnis nehmen? 
 
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