Evelyne Marti


Wo Licht und Schatten sich treffen


Kurzgeschichte


Liebe Lynn


In einem Forum sah ich Deinen Kindernotruf-Link und stieß dabei auf Deinen Beitrag, wo Du Deine Hilfe anbietest, falls jemand Sorgen habe. Ich erzähle Dir nun etwas, was sonst niemand wissen darf. Ich weiß nicht, mit wem ich sonst darüber reden könnte. Bestimmt würden mich dann alle hassen. Ich hoffe, meine Geschichte wird Dich nicht schockieren, aber Du hast ja geschrieben, Dich könne nichts mehr erschrecken.

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Ich weiß nicht, wo anfangen. Es gäbe so viel zu erzählen, damit Du verstehst, weshalb ich es getan habe. Ich kann es eigentlich selbst auch nicht verstehen. Es ist alles so schrecklich und nicht mehr gutzumachen. Ich frage mich immerzu, wie ich dazu fähig sein konnte. Ich war damals zwölf. Wie oft hab ich mir gewünscht, ich wäre nie geboren worden, damit es nie so weit gekommen wäre!


Aber Lynn, glaube mir, es hatte Gründe, auch wenn sie mir damals nicht bewusst waren. Denke ja nicht, ich sei ein Unmensch! Ich lebte in ständiger Angst vor meinem Vater. Dieses Gefühl nimmt dir jede Freude, als stecke man dich in einen engen Abstellraum, ohne Sauerstoff, eingesperrt, das Licht ausgeknipst. Nur noch Dunkelheit und Beklemmung. Und das ein Leben lang. Diese erstickende Angst bringst du fast nicht los, auch später nicht. Sie steckt in dir drin wie eine unheilbare Krankheit.


Ich war der Jüngste, das war meine Trumpf-Karte, die einzige, welche ich hatte. Meine Brüder konnten sich wenigstens wehren, so groß und stark, wie sie waren. Doch ich war klein. Mein einziger Schutz bestand darin, möglichst lange niedlich zu wirken für die Erwachsenen. Je älter ich wurde, desto weniger kam dieses „Oh wie süß er doch ist!“ über ihre Lippen. Bald war ich nur noch ein lästiger Lausejunge für sie. Alle schubsten mich herum, auch meine älteren Brüder. Also fing ich auch an zu schubsen. Ich hasste diese kleinen Würmer, welche schafften, was ich nicht mehr konnte, nämlich Mittelpunkt zu sein. Sie wurden gehätschelt und geschützt, während mir alles Mögliche in die Schuhe geschoben wurde. Ich war der Sündenbock für alles und jeden und musste mich ständig irgendwo rausreißen, um den Schlägen zu entgehen. Ich hasste alle und am meisten mich selbst.


Wenn mein Vater von der Fabrik nach Hause kam, war da nie ein Lächeln in seinem Gesicht. Je näher seine Gestalt heranrückte, desto größer und unheimlicher wurde er, bis ich nur noch seine dunklen, lackierten Schuhe vor mir erkannte. Er war ein Riese und ich ein Nichts. Wie sehr fürchtete ich täglich diesen Augenblick. Es war, als würde sich jedes Mal das Wetter verdüstern und ich in einen Abgrund gestoßen werden.


Als wir umzogen, sah das neue Zuhause fast genau so aus wie das alte, auch ein gelbes, baufälliges Haus, der Gartenzaun ebenso verrostet, wieder ein Kieselsteinweg, dieselbe Sackgasse, der Eingang auf der gleichen Seite und wieder mit Treppe und halbzersplitterten Fenstern. Eine Familie bekam wohl stets dieselbe Art von Zuhause, wo sie auch hinzog. Auch hier gab es nur wenig Licht, der Garten genauso unfruchtbar wie der frühere. Familien wie meine wohnten immer im Schatten. Die Dunkelheit der Seele zog das Dunkle an, überall diese drückende Angst.


Als ich in die Schule kam, hoffte ich, da rauszukommen. Ich wollte auch so glücklich und unbeschwert werden wie die anderen Kinder. Ich wollte es lernen, aber ich wusste nicht wie. Neidisch war ich auf sie, weil sie das Leben spürten, sich freuten und laut lachen konnten. Doch ich fühlte nur die Dunkelheit und den Tod in mir. Worüber sollte ich mich auch freuen, wo die Angst mir jede Kraft nahm. Immer musste ich mich verstecken, im Keller, im Estrich oder draußen. Oder mich einsperren in meinem Zimmer und durch die Tür und den Holzboden horchen, was als Nächstes passieren könnte. Wie schön das Wetter auch war und wie hoffnungsvoll der Tag auch beginnen mochte, es war nur eine böse Täuschung. Wie freundlich sich mein Vater vor Fremden auch gab, wie süß er dabei auch lächelte, es war alles nur eine hundsgemeine Lüge. Und niemand dieser Besucher hätte je für möglich gehalten, was für ein Mensch er wirklich war. Und wer hätte mir Kind schon geglaubt.


Da war ein Mädchen in meiner Klasse. Sie hieß Jessica, doch alle nannten sie nur Jessy. Ihr Haar war so hell wie ihr fröhliches Wesen. Wenn sie in meiner Nähe war, fühlte ich mich auf einmal glücklich. Es gab nichts, was sie betrübte. Sie kannte keine Angst und keine Sorgen. Für sie war das Leben ein großes Abenteuer. Ihre Augen tanzten, so wie ihre lustig hüpfenden Mokassins, die sie oft trug. Wie sehr liebte ich ihr Kichern und ihr verspieltes Wesen. Sie war arglos und zu jedem nett, auch zu mir Außenseiter. Sie konnte zu niemandem böse sein. Sie vertraute jedem, weil sie niemals auf den Gedanken gekommen wäre, jemand könnte es nicht gut mit ihr meinen. Ihre Seele war so hell und zart wie die goldschimmernden Flügel einer Libelle, ihre blassblauen Augen so rein und klar wie ein unerschlossener See im geschützten Berginnern. Und gerade ich hatte das unglaubliche Glück, ihr zu begegnen.


Sie wohnte auf der anderen Seite der Vorstadt, jenseits des Flusses, auf der Sonnenseite. Ich wollte wie sie in der Sonne wohnen, ganz nahe bei ihr, für immer glücklich. Aber das ging nicht. Also besuchte ich sie öfter, war mir egal, wenn es zuhause deswegen Schläge gab, die bekam ich auch so. Und wenn sie mich fragten, wo ich gewesen sei, schwieg ich eisern, niemand durfte davon wissen, es blieb mein Geheimnis. Es war jedes Mal ein kleiner Tod, wenn ich wieder nach drüben musste in den Schatten, aber ich gehörte nun mal dorthin, zu den Schattenmenschen. Jessys sonnige Lebensart blieb mir ein Rätsel, wie sehr ich auch versuchte, ihr unbeschwertes Wesen zu begreifen. Sie konnte über die kleinsten Dinge in glucksendes Gelächter ausbrechen und sich stundenlang immer wieder neu daran erheitern. Ich mochte ihre krausen, flachsblonden Locken.


Der Weg zu ihr führte über eine alte Holzbrücke und bog nach links ab in einen wunderschönen, kleinen Mischwald, wo er zu den vielen hübschen Einfamilienhäusern abzweigte. Diese lagen ganz nahe am Fluss, wo es herrliche Kiesbuchten und Sandstrände gab, ein Paradies, wo wir Kinder uns austobten, das Leben konnte so schön sein! Mit Jessy vergaß ich die Dunkelheit. Und doch kam die Dunkelheit zurück, mehr als ich ahnte …


Eines Tages erklärte uns Jessy freudestrahlend, sie ziehe weg. Sie erzählte vom neuen Haus und den Kindern, welche sie da kennengelernt habe. Wie konnte sie sich nur darüber freuen! Waren wir ihr egal? Was war mit mir?! Wie konnte sie mich einfach so verlassen und sich sogar freuen?! Warum tat es so unendlich weh?! Ja, sie war bezaubernd, sogar jetzt, wo sie von ihrem neuen Zuhause schwärmte, das viel zu weit weg war, als dass ich sie hätte besuchen können. Nicht einmal gehört hatte ich von dem Ort. Sie war wie immer glockenklar in ihrem Wesen, doch kannte sie keinen Schmerz und keine Sehnsucht, wusste nicht, was es heißt zu vermissen. Sie lebte im Augenblick und morgen würde sie mich vergessen haben.


Doch konnte ich sie nicht dafür hassen. Zu bezaubernd war sie, ich wollte nicht auch noch diesen Augenblick verlieren, denn bald würde ich nie wieder ihr ansteckendes Gekicher hören, nie wieder in ihr hübsches Gesicht blicken, nie mehr ihre meerblauen Augen leuchten sehen. Nie mehr an ihren frechen Locken ziehen können. Keine Sonne mehr, nur noch Dunkelheit. Es war, als wäre ich am Ertrinken und dürfte jetzt noch die letzten Atemzüge erhaschen – ihr helles Lachen, ihre reine Stimme, ihre anmutigen Bewegungen. Wie konnte sie mir das nur antun?!


Die nächsten Tage und Wochen lebte ich wie in Trance. Mir war alles egal, die Schule, die Noten, alles. Dazu kam, dass Mutter im neunten Monat schwanger war und sich alles nur um das erwartete Baby drehte. Niemand beachtete mich, ich hätte tot sein können, sie hätten es nicht bemerkt. Doch konnte ich diese unerwartete Freiheit nicht genießen.


Jessy war weg, wozu also. Durch Jessy erhielt ich auch Kontakt zu ihren Freunden, doch jetzt fiel alles auseinander. Nur ihretwegen akzeptierten sie mich bisher. Nun wurde ich wieder der düstere Einzelgänger. Ich war ein Schattenkind und blieb es. Wie Pech klebte es an mir. Nur Jessy konnte mich aus der Dunkelheit holen, nun war sie weg, für immer, und damit auch der Sinn meines Lebens. Auf meinen Brief antwortete sie mit ein paar dahingeworfenen Zeilen, nichtssagend wie eine Weihnachtskarte. Sie nannte mich sogar Tommy, obwohl sie doch wusste, dass ich nur Tom genannt werden wollte. Sie hatte es vergessen. Sie hatte mich vergessen.


Wäre Jessy nicht weggezogen, hätte wohl alles einen anderen Verlauf genommen. Es war eine Kette von unglücklichen Umständen, welche mich zu dieser schrecklichen Tat trieben. Ich will es damit nicht rechtfertigen oder entschuldigen. Nein, es ist absolut unverzeihlich und ich bin der Erste, welcher Anklage gegen mich erhebt. Ich will jedoch, dass Du verstehst, wie es dazu kam, Lynn. Ich wollte mir deswegen das Leben nehmen, mich hinrichten für die Tat, aber das geht nicht, sonst würde ich noch mehr Schuld auf mich laden. Ich habe eine größere Strafe erhalten und gleichzeitig hat mir Gott mit einem unermesslich kostbaren Geschenk verziehen. Aber das kam viel später, zuerst war nur der Hass da, der Hass, allein gelassen zu werden, ungeliebt und missachtet.


In der Schule wurde ich genauso wenig beachtet wie zuhause. Als gäbe es mich nicht, als wäre ich unsichtbar. Meinen Namen hörte ich nur gerade, wenn irgendein Lehrer die Schülerliste verlas. Wenn mein Name dabei fiel, schauten sich meine Mitschüler um, als dächten sie, ich wäre schon längst aus der Klasse gefallen, und wunderten sich, dass ich noch da war. Ich war ein Nichts und so fühlte ich mich auch. Und wie sie dämlich lachten und andere verspotteten! Ich hasste sie. Und sie hassten mich, weil sie spürten, wie sehr ich von ihrer Art abwich.


Als ich mein Semester-Zeugnis erhielt, bekam meine Mutter gerade ihr Baby. So konnte ich es einfach vergessen zu erwähnen. Niemand fragte danach. Alle sprachen nur vom Baby, der ach so süßen Silena. Aber wie sollte es weitergehen mit mir? Ich bemühte mich, bessere Noten zu schreiben, denn ich wollte so schnell wie möglich aus dieser Familie raus und etwas werden. Ja, ich wollte jemand sein, kein Nichts wie jetzt. Ich würde es den Leuten zeigen, was in mir steckte. Sie sollten alle Respekt vor mir haben und mich endlich wahrnehmen! Ich lernte wie nie zuvor. Trotzdem wurden meine Noten kaum besser. Es war wie verhext. Während andere mit Leichtigkeit Bestnoten schrieben, konnte ich lernen, so viel ich wollte, meine Noten blieben durchschnittlich oder darunter. Verbissen lernte ich noch mehr, gönnte mir keine Freizeit mehr, wozu auch, ich hatte keine Freunde. Das war meine einzige Chance in die Freiheit. Ich musste es schaffen! Sie widerten mich alle an: die Mitschüler, welche so ohne Anstrengung gute Noten hinkriegten und mich als erfolglosen Streber verlachten, die Lehrer für ihre harten Tests und Noten, meine Familie, welche mein Lernen bespöttelte und mir nichts Gutes zutraute. Also lernte ich noch härter, auch nachts, und gönnte mir nur wenig Schlaf. Ich würde es ihnen allen beweisen!


Ich schottete mich in meinem Zimmer ab, was kümmerte mich meine Familie. Es ging ja sowieso alles nur um das Baby. Silena hier, Silena da. Ich war ihnen nichts schuldig. Wie konnten sie also auf einmal von mir verlangen, auf die Kleine aufzupassen! Ich musste lernen, drei Prüfungen standen bevor! Und jetzt wollten sie mir meinen guten Abschluss vermasseln, indem ich ihre Arbeit übernehmen musste! Ich begehrte auf, wütend und verzweifelt. Und doch stießen sie mich samt Kinderwagen und schreiendem Baby nach draußen. Ich hatte zu gehorchen. Und das Baby wollte nicht Ruhe geben. Ich fuhr mit ihm den Bordstein entlang, bis die Straße steil nach unten abfiel zu einer Kreuzung. Da konnte ich nicht hinunter, sonst hätte ich den Wagen wieder mühsam hinaufstoßen müssen. Außerdem war der Verkehr dort zu stark.


Das Baby brüllte unaufhörlich. Ich dachte nur noch darüber nach, wie ich es abstellen konnte, dieses unerträgliche Geschrei. Das Baby war mir im Weg, mir und meiner Zukunft. Nun hatten sie es mir aufgehalst, nicht nur für dieses eine Mal. Ich würde nicht mehr genügend lernen können, immer diesen Balg am Hals, wie unfair! Gerade jetzt, wo ich in der Schule wieder aufholte, würde dieses Baby mein Leben zerstören. Es hatte kein Recht dazu! Bebende Wut stieg in mir hoch. Ich war zuerst da, ich besaß ein größeres Recht! Hasserfüllt stieß ich den Kinderwagen in den Abgrund.


Der Kinderwagen rollte unaufhaltsam die steile Straße hinab auf die dicht befahrene Straßenkreuzung. Ich war wie gelähmt, ich konnte und wollte den Babywagen nicht aufhalten. Ich fühlte nichts als Kälte in mir, eiskalte Entschlossenheit, das Hindernis zu beseitigen. Ich oder sie! Der Kinderwagen raste in immer schneller werdendem Tempo auf die Fahrspur. Ein Auto bog gerade um die Kurve, bremste kreischend, sich um die eigene Achse drehend, und erwischte den Kinderwagen. Andere Fahrer hielten an und eilten zu dem Baby. War es nun tot? Auf einmal die Angst in mir, entdeckt zu werden. Was, wenn sie mich da oben stehen sahen? So rannte ich blindlings los, irgendwohin, nur weg von diesem Ort, und versteckte mich im Wald. Wie sollte ich alles glaubhaft erklären? Und würden sie mir glauben? Was hatte ich getan! Konnte ich überhaupt noch nach Hause? Käme ich nun ins Gefängnis? Tausend quälende Fragen, immer das tote Baby vor Augen.


Irgendwann, vielleicht eine Stunde später, wagte ich mich nach Hause. Mein simpler Plan: so tun, als würde ich den Babywagen überall suchen. So kämen sie bestimmt nicht auf die Idee, ich könnte der Mörder meiner Schwester sein. Sie trauten mir sowieso nichts zu, sahen in mir nur den Versager, der zu nichts taugte.


Mein Schauspiel gelang tatsächlich. Ich erzählte ihnen, ich hätte das schlafende Baby am Straßenrand stehen lassen, um im Wald ein paar schöne Tannenzapfen zu holen. Als ich zurückkam, war der Kinderwagen weg. Meine Eltern machten mir zwar Vorwürfe, doch da der Kinderwagen schon länger eine defekte Bremse aufwies, neigten sie gleich zu der Annahme, der Kinderwagen müsse von selbst die Straße hinuntergerollt sein. Gerade da, wo ich wirklich schuld war, gaben sie mir das erste Mal keine Schuld. Merkwürdiger konnte das Leben nicht sein. Vielleicht lag es auch am Schock, den das Unglück mit sich brachte. Wie blind sie doch waren! Aber im Grunde genommen bedeutete es schlichtweg eine Beleidigung, sie trauten mir so wenig zu, sahen in mir nur einen Trottel, der natürlich auch nicht für einen Mord fähig schien. Das erste Mal, wo mir dieser Umstand nützlich wurde. Wie dumm sie doch waren! Ich fühlte auf einmal eine dunkle Überlegenheit in mir hochsteigen, so sehr sich mein Gewissen auch dagegen wehrte.


Ich wagte nicht, näher nach dem Baby zu fragen, erfuhr jedoch von meinen Brüdern, es sei in das nächste Krankenhaus eingeliefert worden und schwebe in Lebensgefahr. Noch lebte es! Doch wie lange?


Hätte ich damals gewusst, welche Wende mein Leben nehmen würde und wie sehr es mit diesem Baby zusammenhing, hätte ich aus tiefster Seele geweint und nicht mehr aufgehört. Doch damals fühlte ich nichts, weder echte Reue noch Freude, ich wollte das alles möglichst rasch hinter mich bringen. Das Baby überlebte. Meine Eltern drängten es mir nicht mehr auf, sondern ließen mich lernen, wohin ich mich dankbar flüchtete. Auf schreckliche Weise hatte sich meine Tat ausbezahlt. So wurde ich tatsächlich noch ein guter Schüler und bestand das Semester. Dies lag wohl auch an meiner durch diesen einschneidenden Vorfall ausgelösten rasch erlangten Reife zum jungen Erwachsenen.


Das Baby wuchs heran und erinnerte mich so sehr an Jessy, dass es mir in der Seele weh tat. Zu meiner gefühlten Schuld kam nun noch die schmerzhafte Erinnerung an Jessy. Noch schlimmer jedoch war: Die kleine Silena trug meinetwegen eine leichte, aber doch spürbare geistige Behinderung davon. Sie würde immer so rein und unschuldig bleiben, ein ewiges Kind. Und gerade dieses Kind hängte sich an mich wie eine Katze, welche ausgerechnet denjenigen umschmeichelt, der am wenigsten von ihr wissen will. Silenas Liebe vergrößerte meine Schuld ins Unermessliche, denn nun verunmöglichte sie es mir, sie und alles, was mit ihr zusammenhing, von mir zu weisen.


Stattdessen begann ich sie zu lieben und je mehr ich sie liebte, desto größer der Hass auf mich selbst und das, was ich diesem bezaubernden Wesen angetan hatte, dem einzigen Menschen, der mich vorbehaltlos liebte. Was sie nicht in Worten zu sagen vermochte, teilten mir ihre großen, aquamarinblauen Augen mit, sie blickte mir direkt in die Seele und tröstete mich allein durch ihr wärmendes, sonniges Wesen. Sie entwickelte eine unglaubliche Empathie zu mir, wusste immer, wie ich mich fühlte.


Lynn, wenn Du sie sehen könntest, äußerlich ist ihr die Behinderung nicht anzusehen, sie ist wunderschön - vollkommen, wäre ich nicht gewesen. Und doch kann ich nicht umhin zu denken, dass nur ein ewiges Kind wie sie fähig ist, einen derart abscheulichen Menschen wie mich zu lieben. Ein gewöhnlicher Mensch hätte mich unweigerlich zurückgestoßen. Ich habe Silena die Zukunft geraubt. Sie liebt mich, weil ich ihr die Fähigkeit genommen habe, etwas anderes als Liebe für mich zu empfinden.


Wie werde ich je damit leben können? Doch auch mir bleibt keine Wahl: Niemand soll ihr weh tun, nicht mehr. Ich muss und will leben, für sie, sie braucht mich und ich werde für sie da sein und sie beschützen – für immer ...


Tom


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