Evelyne Marti

Aspekte der poetischen Kriminalerzählung

Essayistische Notizen
 
Wo im Märchen das Wunderbare prachtvolle Seelenparadiese speist und in der Phantasmagorie das Unheimliche die innere Landschaft wie Pergamentpapier zerreißt, erhält in der anspruchsvollen Kriminalerzählung der Bereich des Desintegrierten, Fremden, Verbotenen und Abseitigen die metaphorische Funktion einer sagenhaft poetischen, andersartigen Jenseitswelt, die eine existenzielle Grundaussage intuitiv zum Ausdruck bringt und der gesamten Tatsituation eine Metaebene mit einer übergeordneten, symbolischen Bedeutung verleiht, wie etwa die allgemeine Bedrohtheit des Menschen. Viele hochliterarische Novellen und Balladen tragen dieses dingsymbolhaft erhöhte Kriminalschema in sich, hergeleitet aus der Dramaform und den ursprünglich vorliterarisch in den metaphysischen Sagen mündlich tradierten Erzählformen, oftmals verknüpft mit einer Neuigkeit, einer Denkwürdigkeit oder einem Rätsel, basierend auf der jeweils geltenden Strafrechtsordnung.
 
Das Leitmotiv des Rätsellabyrinths reicht bis zu den alten Mythen zurück und findet sich als Archetyp in den kollektiven Träumen des Volksgutes wieder. Schon das Kleinkind spielt mit Labyrinthen, es ist Teil seines magisch-realistischen Denkens. Dies erinnert unwillkürlich an einige berühmte Labyrinth-Gemälde, in deren Schatten gleichnishaft vieldeutige Figuren aufschimmern. Auch anspruchsvolle Literatur behandelt immer wieder das Labyrinth-Motiv und verweist dabei auf eine unsichtbare, metaphorische Bedeutungsebene, wo das metaphysisch Poetische sich atmosphärisch bildet im schemenhaft symbolischen Geschehen. 
 
Was sich dort in die intuitiv erfühlbare, existenzielle Metaebene eingräbt, erfährt eine amplifizierend epische Erweiterung in der Erzählszenerie, indem der kriminalwissenschaftlich-juristische Erzählstoff investigativ und strukturbildend mit einem reichhaltigen Wissensrepertoire detailverliebt angereichert, auf erkenntnistheoretischer Ebene qualitativ gehoben und als Rätsellabyrinth szenisch verschachtelt wird.
 
Das verrätselte Handlungslabyrinth ist das Kernstück der anspruchsvollen, poetischen Kriminalerzählung. Die Handlungslinien verschlingen sich in einer taktisch geschickten Erzählkomposition, wobei sich der jeweilige Schauplatz durch die punktuelle Begegnung der Protagonisten zu einer welthaltigen Bühne ausweitet. Es geht darum, einen Inkubationsraum für anklingende Bedeutungsdimensionen zu schaffen, die Deutung nicht als Infotainment im Dialog anzuhängen, sondern sie in die Szenen selbst hineinzulegen. 
 
Ein Mord an sich ist eine plumpe Tat der rohen Gewalt. Man kann diesen Umstand durch ein besonders intelligentes Motiv veredeln oder durch eine Notwehr- oder Opfersituation relativieren und in gewisser Weise durch eine höhere, ausgleichende Gerechtigkeit rechtfertigen. In einer anspruchsvollen Kriminalerzählung erfolgt zusätzlich der Kunstgriff der Aufwertung durch eine irgendwie geartete Metaebene, wodurch die Tatsituation eine übergeordnete, sinnfällige Bedeutung erhält. Ebenso stilisierend wirkt eine intellektuelle Abstrahierung der physischen Rohheit, die ein Mord ausstrahlt, wobei die Rätselhaftigkeit des Mordes verfeinert zur Geltung kommt und die Grundsituation als Teil eines zu lösenden, ausgeklügelten Schachspiels erscheint. Eine strafmildernde Psychologisierung und die metaphorische Sinngebung entheben den Mord seiner ursprünglichen Primitivität. Dies darzustellen und zu vertiefen, kann durchaus auf kunstvolle Weise geschehen.
 
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