Evelyne Marti

Der Schatten

Kurzgeschichte

Der weiße Vorhang hob sich schwerfällig, als der eisige Wind den weiten, hellen Raum durchwühlte und der Stille seine Stimme lieh. Auf der Couch lag eine Frau, ihre Augen starrten bedächtig zum flatternden Vorhang, als hielte sie Zwiesprache mit ihm. Sie wollte sich aufrichten, fiel jedoch mit einem leichten Stöhnen zurück in die Sofakissen. Die Kälte kroch an ihr hoch und nahm von ihrem Körper vollends Besitz, verzehrend, zu Eis gefrorene Flammen, der Nacken steif und zur Säule erstarrt.
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Da ist nichts.
Da hilft nichts.

Unverwandt ihr Blick auf den Vorhang gerichtet: Der Schatten der Vergangenheit durchwebte die zarte Stickerei und stahl ihr das Licht. Ihr Vater lag einmal dort, wo ihr gefrorener Körper ihn nun vertrat. Er wollte damals nicht gestört werden, sein Gesicht mit einem weißen Taschentuch bedeckt, die Stimme ungewöhnlich hohl und schwach, eisig wie die Stille, welche auf einmal die hochsommerliche Schwüle im Raum vertrieb. Lichtentwichen enthüllte der stumpfe Vorhang den Tod. Erloschen wandte sie sich ab. Ihr Körper verwuchs mit der Couch, ihr trüber Blick fiel in ihre Augenhöhlen zurück, sich dem Vergessen hingebend.

Das Innere einer Kirche tat sich vor ihr auf. Zehn Bankreihen zählte sie, für jede Grabreihe ein Jahr. Ihr Bruder saß auf einer mittleren Bank, er wollte unbedingt da sitzen bleiben, sie konnte ihn nicht überreden aufzustehen. Er sah den Schatten nicht, der sich auf ihre Schultern setzte und ihr aufgeregtes Reden erstickte.

Sie ging weiter, die Kirchenkuppel öffnete sich wie eine Decke - freier, blauer Himmel über ihr. Die letzte Bank weitete sich zur Unendlichkeit aus, die Reihen zum unsichtbaren Horizont hin immer blasser werdend im gleißenden Licht.

Auf der zweitletzten Bank saß ihre Mutter, selbstvergessen, in steter Hingabe, gebraucht und geliebt, unersetzlich, ein Baby in die Arme gelegt.

Aus Schnee zusammengezimmert ein kaltes Schlaflager, des Vaters starrer Blick, er lächelte feingliedrig wie ein neugeborenes Kind. Er hörte nicht mehr ihr Weinen, die Augen schneeblind geworden, nicht mehr von dieser Welt.

Seine Hände ganz kalt.

Noch immer fühlte sie den Schatten auf sich, als sie erwachte.

Da ist nichts.
Da hilft nichts.

Copyright © 2004-2014 by Evelyne Marti
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