Evelyne Marti
 
Das Treppenhaus
 
Kurzgeschichte
 
"Livia!" Ein zierliches Mädchen mit hellbraunen Zöpfen beugte sich über das alte, eingefallene Gemäuer der Brüstung oberhalb der vermodert klapprigen Holztreppe, die rücklings des baufälligen Zweifamilienhauses zum ersten Stock führte.
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Dass hier überhaupt noch jemand wohnte, erstaunte alle Vorbeikommenden, denn bei jeder Durchfahrt eines Schnellzuges wurde das zusammengeschusterte Haus auf eine unfassbar sichtbare Weise in seinen Grundfesten erschüttert, als schiene es im nächsten Moment wie durch eine Zeitmaschine zerstaubt in sich zusammenzufallen. Doch nein, das wie auf Zahnstochern festgezurrte, holzgetäferte, schiefwinklige Gebäude mit teilweise zerborstenen Fenstern verharrte trotzig in seinem abgeblättert entfärbten, ausgebleichten Bretterkostüm, mittendrin fett und breit eine tresorhaft eingebaute, metallgraue Tür, die zu Rosalie führte, einer jungen Italienerin mit Familie, während auf der Rückseite des Wohnhauses für sämtliche Bewohner des wackligen Baus die verschmutzte Außentoilette bereitstand, den Bahngeleisen zugewandt, die unmittelbar daran vorbeiführten.
 
"Livia!"
 
"Ich komm ja gleich", beschwichtigte Livia aufgescheucht, während die Dreizehnjährige argwöhnisch die steile, rutschige Holztreppe hochstieg zu der ungeduldig zappelnden Rajka, deren ungewöhnlich dünnen Haarzöpfe wild über das Geländer baumelten. 
 
"Dein Bruder ist hier!", rief Rajka fröhlich und trippelte auf den oberen Stufen der knarrenden Treppe.
 
Livia wurde schwindelig, sie klammerte sich an die Stäbe des Treppengeländers. Das konnte doch nicht sein! ER hier?
 
"Er wohnt über uns", plapperte Rajka redselig. "Dein Bruder ist irgendwie lustig!"
 
Was meinte sie damit? Er war noch nie im Leben lustig. Ein ungutes Gefühl überfiel Livia. Was hatte er mit der kleinen Rajka vor, welches Spiel trieb er mit ihr? Wie konnten ihre Eltern sie einfach so unbeaufsichtigt zu ihm lassen? Merkten sie denn nicht, wie unberechenbar er sich verhielt? Aber nein, das konnte doch nicht sein, dass ER hier war, wo sie doch hierher kam, um von ihm wegzukommen!
 
Als sich Rajkas älterer Bruder Yanis neben Livia die Treppe hochschlängelte, gab ihr sein unbekümmertes, warmherziges Wesen den nötigen Auftrieb, um sich aus dem dumpfen Sog des Schwindels zu befreien und die letzten Hürden vom fast gleichaltrigen Blondschopf erobert und für sie geebnet hochzustreben. 
 
Oben angekommen wurde sie sogleich von Rajkas Familie umzingelt und in die Küche gelotst. Deren Eltern wirkten wie alle Bewohner dieses bizarren Wohnhauses höchst schrullig, jedoch gleichzeitig von einer derart entwaffnenden Lebensfreude getragen, als würde das baufällige Haus ihnen Tag für Tag vor Augen führen, wie unschätzbar einzigartig jeder einzelne Augenblick auszukosten sei, als wäre es gerade in solch wackligem Gemäuer nicht selbstverständlich, als könnten sie jederzeit in diesem Kartenhaus mit in den Abgrund gestoßen werden, dem sie mit einem schon fast besessen anmutenden, sprühenden Lebensgenuss begegneten, während ihre funkelnden Augen Livia wie Irrlichter den weiteren Weg nach oben wiesen, zu ihrem Bruder, der über ihnen einquartiert nun selbst Teil von ihnen geworden war, gleichsam symbiotisch von der lebenstrotzenden Präsenz des architektonisch widernatürlich erscheinenden Geisterhauses aufgenommen.
 
"Dein Bruder stieg gestern auf die Bahngeleise, er wollte sterben", schmatzte die zehnjährige Rajka sorglos, während sie sich bereits die nächste mit Quittenmarmelade bestrichene Schnitte in den breiten Mund schob, wobei Livia wieder nur staunen konnte, wie die Natur diese Völlerei mit dem schmalen, dünndrahtigen Körperbau ihrer jüngeren Freundin vereinbarte. Diese Familie, überhaupt dieser Witz von Haus wirkte derart wirklichkeitsfremd. Es erschien ihr unmöglich, ihnen zu erklären, wie es tatsächlich um ihren heroinsüchtigen Bruder bestellt war, der vorletztes Jahr volljährig geworden ihr gemeinsames Zuhause verlassen musste, weil er einfach nicht mehr verantwortbar war für die Familie, es eigentlich schon früher hätte entschieden werden müssen, so vieles hätte nicht passieren dürfen, doch war es nun mal geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.
 
Ihre Eltern brachten ihn nach langem Zögern vor zwei Jahren vorübergehend anderweitig unter, nach vorgängig vier Jahren Angst vor ihm und seinen Übergriffen, vier Jahre, wo sie und ihre Schwester neben seinem Zimmer ungeschützt seinen Zudringlichkeiten ausgesetzt blieben, ohne dass die Eltern davon wussten, weil es einfach nicht sein durfte und sie keine Sprache dafür fanden, als sich gegenseitig zu schützen in einer Front des kindlichen Widerstands. Doch irgendwann spürten ihre Eltern dann doch, dass es besser wäre, sie hier in Pflege zu geben in Zeiten ihrer Abwesenheit, sie nicht mehr allein zu lassen mit dem Bruder. Und nun war er ausgerechnet hier, wo sie Zuflucht vor ihm suchte.
 
Ihr Bruder musste hier weg, sie musste etwas unternehmen. Da es ihre Eltern waren, die ihm diese Wohnung besorgten, konnte sie das nur allein regeln. Immer mehr kam es so, dass sie die Dinge in die Hand nehmen musste, damit sich etwas änderte. Ihre Eltern waren wie erstarrt, als hätte ihr Bruder ihnen jede Lebenskraft genommen. Nun musste sie ihre Rolle übernehmen. Ihr Bruder sollte in eine Entzugsklinik gebracht werden. Er ließ hier wie schon zuhause alles herumliegen, die Drogen, die blutverschmierten Spritzen und das Drogenbesteck. Er ließ sich gehen, zog sich aus im Rausch und belästigte sein Umfeld. Das würde auch hier geschehen.
 
Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre kleine, noch kindliche Freundin Rajka das nächste Opfer sein würde. Sie kannte das Leben nicht, sondern nur ihre heile Kinderwelt. Sie würde es viel zu spät begreifen, dass er eine Gefahr für sie bedeutete, denn er gab sich zutraulich und lieb, als könnte er niemandem ein Leid zufügen. Man musste einfach Mitleid mit ihm haben, doch dann saß man in der Falle und kam nicht mehr weg, wenn er vertraulich schmeichelnd die kindliche Nähe suchte. Es war jedes Mal so, als würde er einen wirklich lieb haben, gerade als großer Bruder, aber das war eine Lüge. Er nutzte das kindliche Vertrauen aus, um sich annähern zu können, eine weiche Gewalt, um Kinder gefügig zu machen für seine Wünsche. Es gab für ihn keine Trennung zwischen sich und dem Kind, das sich ihm vertrauensselig öffnete und seinen sanften Worten glaubte und seine Vertraulichkeit unschuldig aufnahm, sodass es nichts sagte aus Angst, auch aus Angst um ihn, da er sonst bestraft werden würde, wie er meinte, als wäre er selbst ein Kind, das Strafe fürchtete. Denn er war ja der liebe Bruder und brauchte Hilfe, das sagte er immer wieder. Man konnte nicht einmal wütend auf ihn sein. Das war vielleicht das Schlimmste, nicht wütend sein zu können, es immer verstehen zu müssen. Auch das hatte er ihnen mit seiner samtweichen, lieblichen Stimme eingeimpft und ihnen damit die Fähigkeit genommen, sich gegen ihn zu wehren. 
 
Schweren Schrittes stieg Livia über das Treppenhaus zur Dachwohnung ihres Bruders hoch, die untere Tür gähnend weit offen, verdunkelt durch Rajkas feingliedrige Gestalt, die im gleißenden Licht tänzelte, wobei ihr Schatten sich wegweisend bis zur Decke hinaufzog, während Livia sich am Treppengeländer hochtastete im Schattenkampf der inneren Widerstände, die sich ihrer bemächtigten und bei jeder weiteren Stufe an geballter Gewalt zunahmen und sich in ihrer Magengrube festkrallten. Sie konnte nicht mehr weiter, als stieße sie eine unsichtbare Wand rücklings zurück in den Abgrund hinter ihr. Auf einmal war sie nicht mehr allein, jemand bewegte sich in flinken, munteren Sprüngen auf sie zu, beinahe so, als würde sie aufgefangen werden, während sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Ein Blondschopf tauchte neben ihr auf, dem sie nun wie einem Stern folgen konnte, im Schweif einer warmen Wolke, die sie umhüllte. Sie spürte, wie ihr Atem den Druck auf der Brust losließ und frische Luft einsog.
 
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