Evelyne Marti
 
Der Jugendanwalt
 
Kurzgeschichte
 
Aug´ in Auge saßen sie sich gegenüber, der Jugendanwalt und sein neuester Fall, ein Elfjähriger. Jemand kam zu Tode, der Junge war dabei, ein Tatverdächtiger oder Zeuge. Was war geschehen?
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Er und sein großer Bruder kletterten kurzerhand auf das Dach ihres Elternhauses, einem breit ausladenden, geschieferten Bauernhofgebäude. Dort befand sich eine alte Holzrolle mit Seil, wo früher das Getreide in den Dachboden gehoben wurde. Sie ließen sich öfter daran hinunterrollen, obwohl die Eltern stets schimpfend warnten, denn es wurde nichts renoviert, vieles lag brach herum und war nicht mehr sicher. Gleich neben dem Bauernhaus schloss eine Holzfabrik an, sodass sich die Jungs vom Dach aus zu den aufgeschichteten Holzschnitttürmen schwingen konnten. Sie mussten nur aufpassen, dass der gewissenhafte Inhaber der Holzfirma sie auf seinen Kontrollgängen nicht entdeckte, denn das Betreten des Areals war streng verboten. Besonders bei Regen wurde es auf den glitschigen Holzbrettern sehr gefährlich. Das wussten sie.
 
"Wie kam es dann trotzdem zum Absturz Deines Bruders?"
 
Warum schwieg der Junge? Er starrte entrückt vor sich hin, als wäre er seinem Bruder nachgesprungen in den Abgrund, als könne er nicht mehr zurück und wäre nun in diesem unendlichen Vakuum ohne Wiederkehr gefangen. Hinter dem Schweigen erhob sich schwerfällig die Gruft seiner Erinnerungen, begraben mit seinem toten Bruder, acht Jahre älter als er, eigentlich schon ein Mann. Ja, ein Mann und er viel jünger als er. Er hätte es doch besser wissen müssen. Er hätte anders sein müssen. Er hätte es nicht tun dürfen. 
 
"Kannst Du Dich noch erinnern, was geschehen ist?"
 
Freundlich nickte ihm der Jugendanwalt zu, unschlüssig den Tatverdachtsbericht der Jugendpolizei durchblätternd und weitere Anwesende zur Ruhe auffordernd. Die Pflichtverteidigung befand sich im Raum. Es verlief alles nach geltendem Recht, was Jugendliche seines Alters anbetraf. Darauf musste besonders achtgegeben werden. Eine Jugendforensikerin hielt sich im Hintergrund auf, falls sich der Junge als zu wenig stabil erwies für die Befragung.
 
"Er wollte mir den Schlüssel nicht geben!"
 
Alle im Raum horchten auf, ein erster Satz, wenngleich auch unverständlich im Zusammenhang. 
 
"Welchen Schlüssel denn?"
 
"Der Schlüssel zu meinem Zimmer! Ich kann es einfach nicht verstehen, warum ich keinen Schlüssel zu meinem Zimmer haben durfte. Wie sollte ich da überhaupt schlafen können, wenn jeder bei mir rein konnte! Ich hab diesen Schlüssel überall gesucht, im Zimmer meiner Eltern, bei meinem Bruder, im ganzen Haus, aber nirgendwo fand ich ihn." 
 
Der Junge seufzte, als befände er sich gerade in der geschilderten Suche nach diesem für ihn absolut lebensnotwendigen Schlüssel. 
 
"Warum war denn dieser Schlüssel so wichtig?"
 
"Ich konnte ja nie richtig schlafen, weil er jederzeit reinkommen konnte! Nur weil ich diesen Schlüssel nicht hatte!"
 
"Warum durfte er denn nicht reinkommen?"
 
Der Junge erblasste, sein Atem stockte. 
 
"Er war schon ein Mann und ich noch ein Kind, ich wollte das nicht mitmachen. Er sollte weggehen und in seinem Zimmer bleiben. Ich wollte allein sein. Und ich wollte endlich einen eigenen Schlüssel haben wie alle. Ich kann es nicht verstehen, warum sie mir den Schlüssel nicht gaben. Ich hätte doch achtgegeben und gut auf ihn aufgepasst, hätte auch aufgemacht, wenn es gebrannt hätte, ganz sicher. Sie hätten mir einfach glauben sollen. Aber jetzt hab ich den Schlüssel", schloss der Junge grimmig.
 
"Wie hast Du denn den Schlüssel gefunden?"
 
"ER hat ihn gefunden und mir ständig vor die Nase gehalten und mich ausgelacht! Ich rannte ihm hinterher, um an den Schlüssel ranzukommen, aber er trieb es immer wilder und kletterte aufs Dach, wohin ich ihm nachkommen sollte. Ich war so wütend, deshalb kletterte ich ihm nach, sogar auf die hohen Holzbretter, wohin ich mich nie getraut hatte. Aber ich wollte unbedingt den Schlüssel zu fassen kriegen. Da er betrunken war, sah ich für mich eine Chance, ihm diesen zu entreißen."
 
"Und? Hast Du es geschafft?" 
 
"Nein, wir handelten etwas aus und er wollte mir danach den Schlüssel geben."
 
"Was hattet ihr ausgehandelt?"
 
"Er verlangte einen Gefallen von mir, dann hätte er mir den Schlüssel gegeben."
 
"Welchen Gefallen?" 
 
Der Junge hüllte sich in Schweigen. Er wirkte wieder unzugänglich wie zuvor, als hätte ihn der Abgrund neuerlich verschlungen und würde ihn diesmal nicht mehr freigeben. Die Silhouette seines Bruders löste sich von der Decke und hüpfte in wilden Sprüngen auf den Umrissen des sich an der Wand abzeichnenden offenen Fenstervorsprungs, dem gelborange strahlenden Gewölk zu, wo er sich zur Feuersäule wandelte und in den Reigen der Vorfahren einkehrte.
 
Endlich frei!
 
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