Evelyne Marti
Der kleine Drachenflieger
Kurzgeschichte
Liebevoll bemalte sie das Blatt vor sich: Die einfache Form eines Drachenfliegers nahm Gestalt an, buckelte sich in seinen frischen Farben, bis er sich erfolgreich aus dem Papier befreien konnte. Er musste fliegen, in den freien Himmel, dem Manne zu, dem er in stiller Liebe gewidmet wurde. Zwei Seelen verbunden, Ringe getauscht, ein Baby mit großen, aquamarinblauen Augen.
Der Drache wuchs heran, sein Körper aus Pappe, seine Flügel feingliedrig aus Holzstäbchen konstruiert und mit Plastikbeuteln flugtauglich überspannt. Er flog immer wieder davon, drehte sich wild im Kreis, bis er in den alten Stromdrähten einer Bahn zappelnd hilflos hängen blieb.
Gebannte Blicke nach oben: Wird er sich befreien können? Pochende Herzen, Ratlosigkeit.
Traurig zappelte der kleine Pappdrache in den Drähten. Er konnte nicht verstehen, wie es dazu kam, seine Flügel von den Drähten eingeklemmt.
Doch glaubte sie an ihn, hoffte und bangte. Tatsächlich: Er kam frei, flog in unbeholfen wilden Rundbögen heimwärts und krachte mit Getöse durch das offene Fenster des geliebten Mannes, dem er gewidmet war.
Ihr Mann nahm ihre Hand.
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