Evelyne Marti

Die Ärztin

Kurzgeschichte
 
Ihre Praxis war optimal den Bedürfnissen der Kundschaft angepasst und ideal erreichbar, direkt an der Hauptstraße in Bahnhofnähe, geschützt hinter einem Ladengeschäft mit Geschenkartikeln.
 
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Entsprechend ausgiebig gestaltete sich der Zulauf in ihr stets gut besuchtes Wartezimmer, obwohl sie als alternative Ärztin nicht gleich zu den teuersten Verschreibungen griff, sondern lieber zuerst naturheilkundliche Verfahren einsetzte. Neue Patienten, die sich von den Neugeborenen bis zur Großelterngeneration traditionell aus den Familien der Umgebung generierten, blickten zwar zuerst erstaunt und befremdlich, wenn sie ihnen die Pillen in transparenten Beuteln aushändigte und in gläubiger Inbrunst ihre Naturheilmethoden dokumentierte, doch gewöhnten sie sich bald an das Diktat der quirlig flinken, kerngesunden Medizinerin, deren charismatische Ausstrahlung und Energiegeladenheit jeden Zweifel an der Wirksamkeit des Heilverfahrens zerstreute.
 
Die Praxisassistenz erfüllte ein Schatten, der hin und wieder durch den Flur huschte und kaum wahrgenommen wurde, bis die Ärztin ihn ertappte und stellte und den Patienten ihre ebenso zierliche, jedoch äußerst ruhige, schüchterne Schwester vorstellte, wobei unweigerlich der Eindruck entstand, als würde die Ärztin sowieso alles allein machen und die Praxishilfe hielte die gleiche formale Rolle inne wie das Praxisschild am Eingang, indessen der Schwester eine geforderte Güte entgegenzubringen war, als besäße sie den Status einer Sonderpatientin. 
 
Und schon öffnete sich die Tür des Wartezimmers, der nächste Patient wurde von der Ärztin höchstpersönlich geholt und in den Behandlungsraum geführt. Eine Mutter mit Kind betrat den leicht abgedunkelten, klinischen Raum, währenddessen die gewissenhafte Ärztin gleich mit konkreten Fragen das medizinische Problem zu eruieren begann, dieweil die beiden Ankömmlinge unsicher um sich blickend auf den bereitgestellten Stühlen einen vorläufig sicheren Halt fanden. Sie wirkten blass und - wie von Patientenseite nicht anders zu erwarten - krank. Es ging um das Befinden des Kindes, so weit begriff die Ärztin die Umstände, wenn auch ihre Fragen unbeantwortet blieben. Deshalb war eine komplette Untersuchung des kleinen Mädchens, bald sieben, wie sie erfuhr, angezeigt, dies mit äußerster Sorgfalt und der gebotenen Einfühlsamkeit für die kindliche Wahrnehmung und Empfänglichkeit bei ärztlichen Eingriffen. Gerade dieses Kind schien die Untersuchung als etwas Bedrohliches zu erleben, wirkte ängstlich darauf bedacht, niemanden an sich rankommen zu lassen.
 
Zwischenzeitlich untersuchte die Ärztin Wuchs, Haltung und Stand sowie Gelenke und Knochenbau, tastete sich an den genannten Schmerzpunkten vor, bis das Mädchen jede Intimität preisgab im Schutz der heilsamen Behandlung, den tröstlichen Worten der Ärztin lauschend, die den kindlichen Körperbau lobte, als wäre es darin ganz besonders und wertvoll. 
 
Eine Unruhe durchlief auf einmal den Raum, als hätte ein bebender, eisiger Luftzug jeden Gegenstand einzeln verschoben. Das muntere Lachen der betriebsamen Ärztin wich einem ernsten, forschen Blick in die bleichen Gesichter vor ihr, als wollte sie eine geheime Information aus ihrem Schweigen extrahieren, gleich einem ihrer Naturheilverfahren, doch blieben sie stumm und regungslos. Die Ärztin erhob sich und wies die Mutter an, den Raum für ein paar Minuten zu verlassen, worin sich diese widerstandslos fügte.
 
In ungewohnt weicher, milder Stimme wandte sich die Ärztin mit einem Anflug von erstmaliger Unsicherheit und Überforderung vorsichtig an das kleine Mädchen: 
 
"Ich werde noch mit Deiner Mutter sprechen und ihr eine Salbe mitgeben, die Du auftragen kannst. Dann werden die Wunden wieder heilen. Es wird alles gut. Dafür werde ich sorgen. Du bist etwas ganz Besonderes. Du musst Dich nicht schämen, Du hast alles richtig gemacht. Weißt Du, Erwachsene sind manchmal einfach nur gemein. Aber ich werde Dir helfen. Hab keine Angst. Du bist nicht allein, es wird niemals mehr geschehen. Das verspreche ich Dir." 
 
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