Evelyne Marti

Die dunkle Gestalt

Kurzgeschichte

Es war wie Weihnachten und Karneval zusammen, was sich dem kleinen Jungen da durch das große Dachfenster bot: So prächtig war das Sternenmeer anzusehen, als hätte Gott selbst seinen Zaubermantel über das Himmelsgewölbe ausgebreitet. Am liebsten wäre er durch die Nebentür auf das Flachdach nach draußen getreten, denn er konnte sich nicht sattsehen an den glänzenden Firmament-Kugeln. Was für ein unvergesslicher Anblick!
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Doch irgendetwas hielt ihn zurück, Herzflattern überkam ihn. So blieb er zufrieden am sicheren Fenster sitzen, die Wangen an die Glasscheibe geschmiegt, seine Nase plattgedrückt, und staunte großäugig in die wunderbare Nacht hinaus. Auf einmal ein Schatten, sein Herz erstarrt: Das Fenster verdunkelte sich zu einem geballten, großen Etwas, als wollte es ihn verschlingen. Brüsk stieß ihn die schwarze Fratze zurück. Rasend das Herz, ängstlich zitternd kroch er in sein Bett und suchte Geborgenheit bei seiner goldschimmernden Globuslampe. Deren Nachttisch-Untergrund schloss das Kopfende des an die Wand gerückten Bettes zu einer Burgnische ein.

Gelähmt verfiel er in eine blutentleerte Ohnmacht, dem lindernden Schlaf weitergereicht. Was für ein tolles Puzzle sah er da auf dem Tisch! Überall Glitzer und schimmernde Farben! Ein Teil fügte sich in das andere, geschwind war das Bild komplett: ein wunderschöner Stern, dessen Farben sich veränderten, als wäre das Bild lebendig. Das war ja ein Vexierbild, da ist etwas drin im Bild! Das Puzzle zerfiel in tausend Prismen.

"Oh nein, da kommt ein Monster raus! Papa, nein!"

Schreiend floh er aus dem Traum und diesmal besaß er die Kraft, seine Mutter zu rufen. Sie stand grau in der Tür, gebot ihm flüsternd Stille, drückte ihn sanft in die Kissen und war auch schon wieder weg, er ganz ruhig, wie es ihm gesagt wurde.

Und vergessen war alles, nur noch in Zeichnungen lebendig: Immer war sie da, diese krakelige, dunkle Gestalt, ohne dass er es wollte; sie kam von selbst aus seiner Hand. Manchmal wurde daraus die böse Nachbarkatze, dann wieder ein Wolf, bis jemand meinte, das müsse der Geist sein, der im Haus spuke. Aber weil da neben der Mama kein Papa gezeichnet stand, musste es dann doch Papa sein. Also musste er ihn ein bisschen netter malen, denn das gehe ja nicht, dass Papa wie ein Monster aussehe, erklärte Mama.

Mama hatte Recht, er konnte das Monster einfach ausradieren und dann einen normalen Krakelmann hinzeichnen. Das ging.

Weshalb bloß die Leute so tuschelten? Ein Mörder sei entlaufen, erklärte jemand; doch als der Mann die ängstlichen Augen auf sich gerichtet sah, beruhigte er gleich: Nicht hier! Der komme bestimmt nicht hierher. Warum auch, hier sei nichts zu holen, nur Leute.

Heute sei Vollmond und der Himmel klar, schwärmte sein Schulfreund; und da Papa ein Teleskop auf dem Flachdach aufgestellt hatte, wollten sie da zusammen heimlich durchsehen. Aber Papa durfte nichts wissen, Mama natürlich auch nicht.

Es gelang ihm, insgeheim die Tür zum Flachdach zu öffnen. Er war richtig stolz, wie geschickt er das angestellt hatte. Jetzt musste er nur noch seinen Schulfreund durch das Haus lotsen, doch da dieser dringlich auf die Toilette musste, fiel der Plan ins Wasser. Papa entdeckte ihn gleich.

Die Nacht war wirklich herrlich: Die Sterne lockten, der Mond schimmerte wie ein breiter Goldtaler. Da war doch das Teleskop, warum nicht allein durchsehen? Die Tür war ja auf. Wie ungewöhnlich hell doch die Nacht war! Die sommerlich frische Luft umfing seinen schmächtigen Körper, als er das verbotene Terrain betrat. Wenn ihn nur Papa nicht erwischt! Da durfte nur Papa rein und raus, von der anderen Seite her kommend, wenn Mama nichts davon merkte. Aber er nicht, er musste ganz leise bleiben und durfte nicht schreien, sonst würden es ja alle hören.

Aber diesmal war es ihm egal, er wollte durch das Teleskop schauen. Er wusste auch, wie die Schutzhaube wegnehmen. No problem! Das Teleskop ließ sich leicht drehen und wenden, in alle Richtungen. Dann mal an den Rädchen schrauben, damit was zu sehen war. Ja! Der Mond war nun deutlich größer!

Seine Augen leuchteten begierig und er drehte das Teleskop in Richtung der Sterne, als er auf einmal eine Gestalt hinter sich erblickte. Das Teleskop schlenkerte stumpf, während ein lautloser Schrei in die ewige Nacht entwich - zu den Sternen.

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