Evelyne Marti

Die Stadt jenseits von hier

Kurzgeschichte

Bald fiele der Wecker über ihn her, um ihm den Schlaf aus den Gliedern zu klopfen. Nur weg und sich erneut einlullen in die wärmend umgarnenden Arme der seligen Ohnmacht, die sehnsuchtsvoll um sein Dableiben rang, ihn küssend fortgeleitete in den Schoß der ahnungsvoll Raunenden. Doch nein, die Arbeit ruft: Auf! Auch wenn der Wecker diesmal seinen treuen Dienst versagte: Es ist Zeit! Ein aufblitzender Lichtkegel drang durch die Jalousie und verlieh ihm den Eindruck von Wachheit.
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In gewohnter Selbstvergessenheit fuhr er den Wagen vom weltenthobenen Riken eilig tänzelnd talwärts. Grauhäuptig hob sich das erstarrte Schulhaus Fridau zum ehrwürdigen Gruße, während er in die nächste Kurve schwebte. Jenseits der Brücke lag sein tägliches Ziel: die Pflicht. Da war sie, die Holzbrücke, wie ehedem, bevölkert in ungewohnter Zahl, als zöge ein Karneval an ihm vorbei. Merkwürdige Gestalten in altertümlicher Kleidung mit bizarren Kappen begleiteten ihre mit vorgespannten Bauernrossen versehenen Fuhrwerke über die hölzerne Brücke, welche sich im morgendlichen Dämmerlicht seltsam verändert ausnahm.

Stressgeplagt bog er zu den freistehenden Parkplätzen an der Flusspromenade, um den Rest des Arbeitsweges zu Fuß auf sich zu nehmen durch das Gewühl des emsig sich vorwärtsbewegenden Aufmarschs, währenddessen die Sonne sich aus dem Nebel freikämpfte, den Brückenkopf auf felsigem Grund mit gleißendem Gold übergießend. Es war ihm, als trüge ihn die Menge in eine zelebrierte vergangene Zeit, nun selbst ergriffen von der Inbrunst der Feiernden, welche ihr Mittelalter-Spiel durch keinerlei modische Accessoires verrieten. Im Gegenteil: Ihr befremdliches Gehabe in nachgeahmtem Altdialekt verlieh ihnen die authentische Ausdrucksstärke von geübten, glaubhaften Charakterdarstellern. Im Grunde genommen wies nichts darauf hin, inwiefern hier etwas gespielt oder vorgeführt wurde als allein die Tatsache, dass sein Verstand es ihm als einzige Erklärung vorgab.

Die Brücke bis zur Mitte durchquert, hielt er inne und blickte um sich, nach den vertrauten Reliefkonturen des Bootshauses suchend. Gewahrte er an diesem nicht eine ungeheuerliche Veränderung? Welcher Täuschung erlag er da? War es nicht aus Holz? Ja, doch dieses Gebäude wirkte eher wie eine Burg, wenn auch einfach geschnitten und alt. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, wie das Bootshaus nun tatsächlich ausgesehen hatte. Es erschien ihm allmählich so, als wäre eine als falsch erkannte Erinnerung weggewischt, gefügig für die vor ihm trotzende, widerlegende Wirklichkeit.

Vom geisterzughaft herannahenden Gewimmel aus Mensch und Tier vorwärtsgeschoben, zog er unbeachtet an den schildbepanzerten Wachen vorbei durch das Stadttor, das sich am Ende der Brücke lichtvoll vor ihm auftat. Nur noch dumpf entsann er sich des täglich aufgesuchten Dorfes, irgendetwas mit "F", Fulenbach oder Fridau, welche sich in seiner Wahrnehmung zu überlappen begannen.

Im Vorhof der ummauerten Altstadt säumten im Anschluss an einen großzügig angelegten, mosaikfarbenen Steinbrunnen unzählige Marktstände mit allerlei gefärbten Tüchern, Tafelgeschirr, eisernen Klingen und Ketten die überfüllte Gasse. Eine Jungfer beugte sich mit erhitzten Wangen über den Brunnen, löste das enganliegende Kinnband, das ihr den Atem raubte. Unter ihrem Schleier kräuselte sich ihr dunkles Haar im aufbauschenden Wind, der sich säuselnd über die Marktstände wälzte und die Menschenmasse um die Stadtbauten trieb. "Anna!" War sie es wirklich? Anna? Eine ältliche Dame zog die anmutige junge Frau mit sich fort, an ihm vorbei. Ja, sie war es tatsächlich. Ihre Blicke vereinten sich. An ihrer Seite auf einmal der Schatten eines Mannes, ihr Bräutigam, die steinerne Kirche betretend, während die Sakristei alles zu überschatten schien mit tausend Chorstimmen aus dem Totenreich.

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