Evelyne Marti
Flusspfade
Kurzgeschichte
Die Hand meines Vaters fühlte sich wie immer wohlig und warm an, als ich mich bei ihm einhakte und wir uns anschickten, den Fluss entlang zu wandern, gegen die Strömung hin, flussaufwärts, zurück zum Ursprung, unserem Heimatdorfe zu. Es waren nur wenige flauschig zerrissene Wolkenfetzen am blassblauen Himmel zu sehen. Die Flussströmung zog sich langsam und ruhig dahin, unzählige Herzschläge, sich in die Unendlichkeit ergießend.
Der Pfad über Baumwurzelknollen und Flusssteingeröll verlief durch einen üppigen, herbstlich bunten Mischwald, entlang des ungezähmt gewundenen, mit Kiesbuchten und kleinen Sandstränden gesäumten Flussbettes. Vater marschierte in großzügigen Schritten voran. Ich konnte ihm kaum folgen und trauerte der traumverwobenen, jenseitsspiegelnden Wasserlandschaft nach, welche sich im Zeitraffer hinter uns schloss. Tränen der zur Marmorstatue erstarrten Zeit. Eine bizarre, baumbewachsene Insel entzweite den Fluss in geometrisch runde Bögen, wodurch ein nahezu perfekter, ewiger Kreis entstand. Es gab kein Ende, nicht wirklich.
Kreiselnde Schiefersteine; Vater wartete auf mich, gerade noch in Sichtweite. Er wirkte unruhig und aufgewühlt, sein Blick folgte den sanft heranrollenden Wellen, welche ihn kalt umfingen. Wenn er nur mehr Zeit gehabt hätte, damals ... Todesvisionen, weinend eine Mutter, noch jetzt höre ich sie, niemand würde sie je trösten können, niemals. Wenn er nur mehr Zeit gehabt hätte ...
Ich kannte den Jungen kaum, nur vom Sehen und Hörensagen. Er wohnte in unserer Nähe. Ich war damals erst zehn, der Junge etwas älter, er kam aus Italien. Auf dem Weg ins Dorf sah ich ihn auf einmal vor mir. Dort wohnte er also: Das Haus lag direkt an der Hauptstraße. Er bestieg gerade ein eigenartig verdrehtes Fahrrad und fuhr los Richtung Bahnhof - freihändig. Wie war es nur möglich, mit einer halben Lenkstange das Gleichgewicht zu halten?
Irgendetwas ließ mich an diesem Ort nicht los, ich fühlte eine Gefahr, etwas war mit dem Haus und dem Jungen, ein bildhafter Eindruck: Im Haus brach ein großes Feuer aus, eine gewaltige Wasserwelle folgte und verschlang den Jungen. Die Mutter weinte und weinte; ihr Seufzen erfüllte das Haus bis zu den verbrannten Fenstergiebeln, als wäre sie eine unerlöste Geisterfrau, welche nie und nimmer ihre Ruhe fände. Ich fragte mich immerzu, weshalb nicht das Feuer, sondern das Wasser den Jungen verschlang. Diese Bilder waren genauso merkwürdig wie das freihändige Fahren auf einem Rad mit halber Lenkstange. Und doch fühlte ich, welch schreckliche Wahrheit sich mir da auftat, etwas, was ich eigentlich nicht wissen durfte, wenn es nach den Erwachsenen ging, aber was wussten die schon ... Eine beklemmende Gewissheit beschlich mich: Der Junge würde noch im gleichen Jahr sterben.
Die ganze Schule war an der Beerdigung des Jungen. Überall standen wir zwischen den Gräbern. Die Mutter weinte und weinte vor seinem Grab, so sehr, dass wir alle mitweinen mussten. Ein ganzes Dorf weinte. Sie war derart trostlos, ihr einziger Sohn für immer verloren. Noch immer höre ich ihr haltloses Wimmern. Noch immer sehe ich den Jungen verzweifelt rudern und meinen Vater rufen ... Noch immer sehe ich den Jungen mit halbem Lenkrad freihändig auf offener Straße fahren ...
Bald nach der seltsamen Vision brannte das Haus wirklich, der Junge habe mit Feuer herumgespielt, hieß es. Ich sah den Rauch über dem Dorf aufsteigen, das Gebäude brannte lichterloh, die Flammen züngelten lauernd aus den Dachgiebeln. Im gleichen Jahr nahmen er und ein paar andere Jungs sich ein Holzboot der Bootswerft und trieben flussabwärts, den gefährlichen Strömungen zu. Alle konnten sich retten, bis auf ihn. Er konnte nicht schwimmen und klammerte sich hilflos an das gekenterte Boot. Vater stand mit seiner Fischerrute auf der anderen Seite des Flusses und rief ihm zu, wie er sich mit den Händen aus der Strömung herausrudern solle, doch der Junge ruderte in seiner wirren Verzweiflung verkehrt herum und wurde in den Wassersog hineingezogen.
Schweigend folgten wir dem weiteren Flusslauf, der uns zu führen schien. Vater ging nun langsam und bedächtig. Direkt am Fluss lag ein einnehmendes, guterhaltenes Holzhaus, davor ein kleiner Steg, ein Holzboot daran festgebunden. Ein paar goldbraungefiederte Enten sammelten sich um das Boot.
Der Pfad wandelte sich zum Kiesweg und dieser mündete in die Dorfstraße, welche uns weiter in die Vergangenheit trug. Auf einmal stand es vor uns, das Haus: verwittert, eingefallen, das Holz verfault, der Garten verwüstet, Einöde rundum, als wäre diese Gegend auf ewig verflucht. Sogar der brachliegende Acker wirkte sandig und ausgelaugt. Der letzte Bewohner soll einen bösen Ruf gehabt haben. Düster und seelenlos stand es nun da, das Haus, in dem Vater seine Kindheit verbrachte, er und seine Geschwister, in einer anderen Zeit, in einer längst vergangenen Welt, das Gebäude nur noch ein skelettartiger Schatten, tot wie die Vergangenheit. Vater starrte trüb auf das klaffend bröckelnde Gemäuer, als hätte man ihm die Seele geraubt. Tonlos erzählte er von seinem Traum, wo er hier war: Allen Hühnern im Stall wurden gleichzeitig die Köpfe abgeschnitten, herumrennende enthauptete Hühner, überall Blut.
Still gingen wir weiter, ein ungutes Gefühl stahl mir den Atem. Die Hand meines Vaters fühlte sich auf einmal so seltsam kühl und eisig an. Ich schaute hoch, graue Wolken ballten sich lebensfeindlich über uns. Vater schritt schnell voran, doch diesmal tat ich es ihm gleich, denn um nichts in der Welt wollte ich an diesem grausamen Ort des Todes bleiben.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns derart mechanisch vorwärtstreiben ließen, das Gefühl für Zeit und Raum längst verloren; doch plötzlich lächelte mich Vater erleichtert an.
„Wir sind da.“
Eine kleine Bahn überquerte gerade die Straße. Jetzt verstand ich: Wir waren an unserem Heimatort angelangt; dieser nahm sich in seinem Altstadtgepräge und der romantisch altertümlichen Straßenbahn wahrhaft heimatlich aus.
Vaters Blick wirkte fiebrig und verklärt.
„Ich muss jetzt gehen.“
Ich verstand nicht.
Der Schaffner klingelte den Nachzüglern mahnend zu. Vater stieg ein und löste sein Ticket, hob den vergilbten Zettel hoch und nickte mir liebevoll zu. Er schaute fasziniert um sich, als wäre er endlich zuhause angekommen.
Da sah ich auf einmal einen dunkelhaarigen Jungen neben Vater stehen. Wieder klingelte das Straßenbahnglöckchen und ich begriff, dass ich den Weg freimachen musste.
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