Evelyne Marti


Ich will leben


Kurzgeschichte


Aufgedrehte Musik drang pochend in mein dunkles Zimmer. Die Wand schien lebendig, Herzschläge einer fremden Welt, zugedröhnt durch Musik und Drogen. Und trotzdem fühlte ich Stille, mildes Licht drang durch das Dachfenster. "Was wird aus Bastian werden?", seufzte meine Seele, bildhaft den künftigen Tod gewahr: Er sterbend im Krankenhaus, Vater bei ihm, Abschied. Doch nicht ohne Hoffnung, Bastians Augen fiebrig leuchtend, sich einer besseren, jenseitigen Welt gewiss.

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Auf einmal ein Knirschen, dämmriges Licht, Bastian stand nackt und verwirrt auf der Türschwelle; er faselte vor sich hin, während ich ihn erschreckt abwies. Gehorsam und stumpf folgte er meiner strengen Anweisung und torkelte zurück in sein Zimmer. Aufatmen. Im Nebenraum Vaters beruhigendes Schnarchen.


Vater, der Patriarch, Angst vor seinem Jähzorn beherrschte uns. Bastian jedoch begehrte auf, rebellisch und ebenso zornig. Flucht in den Garten, wenn Vater und Sohn durch das Haus bebten. Liebe und Hass, Ehre und Stolz, Angst vor Enttäuschung, Angst zu enttäuschen, Bindung und Verlust, Selbstbehauptung und Verlorenheit. Bastian lernte auf alle Prüfungen, bis er sich von der untersten Stufe in die höchste hochgekämpft hatte. Er wollte vor Vaters hartem Blick bestehen.


Doch auf einmal war da etwas Stärkeres: Heroin, Geld für den nächsten Schuss, alles andere von einem Tag auf den anderen ohne jegliche Bedeutung, herausgefallen aus dem sozialen Gefüge, unsäglich haltloser Abgrund, Selbstverlust. Diebstähle, Beschaffungskriminalität, keine Freundschaft ohne Nutzen.


Als ich Bastian in seiner heruntergekommenen, abbruchreifen Dachwohnung besuchte, bot sich mir ein Bild des Grauens. Das reale Leben war ihm derart fremd geworden, er lebte wie ein Tier: harngefüllte Gläser, um sich den Weg zur Toilette zu sparen; herumliegende Spritzen und alles, was er benötigte, um sich den nächsten Schuss zu setzen. Er lachte mich mit halbverfaulten Zähnen an und zeigte mir seine unzähligen Einstiche. Nun müsse er bereits nach freien Stellen an den Zehen suchen. Er war glücklich, weil er sich gerade eine Ladung gedrückt hatte. Er beschrieb mir hocherfreut und schon fast akademisch, auf welch fantastische Weise das Heroin sein Bewusstsein erweitere. Seine Augen leuchteten verschwitzt, als wäre er ein Heiliger, der glückselig und weltenthoben in seiner Höhle meditierte.


Verspielt wie ein kleiner Junge zeigte er mir sein Drogenbesteck, erklärte mir, wie er das Heroin herrichte und spritze, welche anderen Möglichkeiten der Einnahme es noch gäbe, hielt mir die Folien hin, simulierte die Zubereitung, um es zu veranschaulichen. Er war ein Künstler und Heroin seine Muse. Er werde damit Karriere machen, führte er weise lächelnd aus. Ehrgeizig wie immer. Ich beneidete ihn um seine weltfremde, blinde Fähigkeit, sich auch jetzt nicht vor Vater geschlagen zu geben. Seine Bewegungen zeigten eine männliche Anmut, welche den begabten Zeichner in ihm verriet. Seine Jungenhaftigkeit stand in krassem Gegensatz zu seiner exzessiven Selbstzerstörung. Wie sehr weinte meine Seele um ihn. Doch was sollte ich tun? Ich war doch erst elf.


Als seine Freundin ihn verließ, setzte er sich betrunken auf die Bahngeleise, bis er von uns zurückgeholt wurde. Danach verschwand er. Sieben Jahre auf der Straße, das Leben eines Strichjungen, zu weich für Raubüberfälle, dann lieber sich selbst etwas antun.


Älter geworden, kam er zurück. Er wollte von der Sucht loskommen und ließ sich für den Entzug in eine Psychiatrische Klinik einweisen. Das war zudem gerichtliche Auflage. Mit einer kleinen Bahn erreichte ich den Ort, wo sich die Klinik in nördlicher Richtung befand: Busanschluss, Endstation eine Baumallee mit mächtig breiten Pappeln. Die Klinik wirkte ruhig und heilsam, ein großzügig angelegter Park um das Gemäuer. Das Portal öffnete sich. Eine Krankenschwester wies mir den Weg durch die Stockwerke. Ein Wärter lotste mich durch mehrere verschlossene Türen im zweiten Stock, bis wir einen größeren Raum betraten. Leere Augen blickten mir entgegen. Die Leute standen entrückt da, als warteten sie auf den Tod.


Bastian jedoch strahlte, als er mich erblickte. Eifrig bemüht zeigte er mir sein Zimmer, das er mit anderen Entzugswilligen teilte; drei Matratzen lagen auf dem Boden. Daraufhin führte er mich in einen weiteren, ebenso überfüllten Aufenthaltsraum, wo wir uns an den vordersten, einzig freien Tisch setzten. Bastian wirkte auf einmal sehr bedrückt. Er spähte ängstlich um sich und flüsterte mir zu, er sei von einem Satanisten verflucht worden, nun wäre er einem Dämon ausgeliefert. Ich müsse ihn unbedingt lossagen. So betete ich mit ihm, was ihn sichtlich befreite.


Ein paar Wärter und Pfleger standen in der Nähe. Es war, als säßen wir in einem Zug, ungeachtet der Mitfahrenden ins Gespräch vertieft. Jetzt, wo Satanist und Dämon erfolgreich gebannt waren, beschrieb Bastian mit aufgerissenen Augen, wie der Satanist ihm in einem Café gegenüber gesessen und eine unheimliche Präsenz von ihm ausgegangen sei, sein Blick hypnotisch auf ihn gerichtet. Ich war froh, dass ein einfaches, aufrichtiges Gebet ihn derart beruhigen konnte. Er glaubte an mich, als wäre ich ein kraftvoller Mensch, stärker als dieser sagenhaft teuflische Mann im Café.


Nach erfolgreichem Entzug siedelte Bastian in eine Wohngemeinschaft für Ex-Drogensüchtige um. Endlich hatte er den Entzug nach unzähligen Versuchen und Abbrüchen geschafft. Diesmal büxte er nur für zwei Tage aus, danach kam er freiwillig zurück in die Klinik. Er habe nur Urlaub nehmen wollen, grinste er schlauäugig. Ich fragte mich, was er in dieser Zeit wohl eingenommen hatte und wie sehr der Rückfall ihn nun zurückwerfen mochte.


Als Mutter und ich die Wohngemeinschaft betraten, erzählte uns Bastian von seiner neuen Freundin. Ihr Mann starb an Aids. Deshalb machte es ihr nichts aus, als sie von Bastians HIV-positiv-Ergebnis erfuhr. Nun erhielt er eine Zukunft, wie jeder andere auch, eine Frau, welche ihn liebte! Ich war richtig glücklich. Das musste ihn doch motivieren! Endlich ein Halt, um nicht mehr abzustürzen, eine eigene Familie.


In seinem Zimmer hing eine Radierung: das biblische Gleichnis vom breiten Weg ins Verderben und dem schmalen Pfad in die Glückseligkeit. Er konnte sich an diesem Bild nicht sattsehen. Er wolle jetzt den schmalen Weg gehen. Er hatte ein neues Ziel: Glaube, Hoffnung, Liebe. Ich fühlte mich ihm so nahe, denn als Kind zeichnete ich genau dieses Gleichnis, wobei der schmale Pfad bei mir als Wendeltreppe direkt nach oben in den hellradierten Himmel führte, während sich der breite Weg nach unten in tiefster Dunkelheit verlor.


Bastian fand, er habe zuerst den falschen Weg nehmen müssen, um auf den richtigen zu kommen. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Nein, das war ein unnötiger Umweg. Kein Mensch muss so tief fallen, um zu erkennen, dass es auch einen richtigen, aber beschwerlichen Weg nach oben gibt. Bastian blickte mich wütend an. Es war, als hätte ich ihn für tot erklärt, den Sinn seines Lebens genommen. Ich schwieg.


Einige Wochen später hörten wir, seine Freundin habe ihn sitzen lassen für einen anderen in der WG. Er wurde rückfällig.


Als sich Bastian wieder meldete, wohnte er in einer anderen christlichen Wohngemeinschaft, diesmal näher bei uns. So konnte er uns hin und wieder besuchen. Für den Winter kauften wir ihm einen ordentlichen Mantel. Wir waren auch wichtige Dusch- und Kleiderwasch-Station. Er wurde ins neu eingeführte Medathon-Programm aufgenommen und es bestand nun die reale Hoffnung für ihn, ein normales Leben aufzubauen. Nur nicht bei uns, hier kannten ihn zu viele. Hier war sein persönliches Drogenumfeld, da würde er bald wieder durch Kumpels ins alte Leben rutschen.


Er fürchtete sich panisch vor seinem alten Milieu und mied unsere Stadt wie die Pest. Diese Stadt sei böse, raunte er omenhaft ängstlich. Zum Glück wohnten wir nur in einem Vorort und nicht im gleichen Haus wie früher, aber trotzdem setzte es ihm zu; er atmete schwer, der Erinnerung ausgeliefert.


Stolz schwärmte er von seiner Gitarre, ein Geschenk aus seiner christlichen Gemeinde. Er lerne fleißig und beherrsche das Spiel schon so weit, um damit auftreten zu können; er komponiere selbst; ein singender Seelenschmetterling, sehnsüchtig nach Leben.


Wir hielten regelmäßig Kontakt, telefonierten oft. Bei seinem nächsten Besuch bei uns wollte er uns etwas mitteilen, schon fast feierlich. Er habe es gleich gewusst, ganz tief in seinem Innern, holte Bastian siegreich aus. Der Arzt wollte es zuerst nicht glauben, doch bestand er auf dem Test. Er habe Aids, schloss Bastian erlöst. Allein das Wissen, Recht zu behalten, war Lösung genug, so schien es.


Obwohl es schon einige Medikamente auf dem Markt gab, womit er die Krankheit und deren Verlauf hätte mildern können, wollte er das nicht. Er sei wie Hiob in der Bibel, der am Ende alles vielfältig zurückbekomme, wenn er nur genügend vertraue. Zweifelnd fragte ich, ob er glaube, alt zu werden. "Nein", gestand er, den Glaubenseifer auf einmal abgelegt. Wir schwiegen. Er wollte leben, doch hatte er alles getan, um zu sterben. Und jetzt war ihm auch die Hiobsillusion genommen. Um ihn zu trösten, sprach ich die Jenseitshoffnung an. Ja, er freue sich auf den Himmel, nickte er nachdenklich, wobei sich sichtlich eine innere Wandlung in seinem Wesen vollzog. Sein Blick hob sich, der Körper richtete sich auf, deutlich trat ein unbeirrbares, hoffnungsvolles Lächeln in seine Augen. Ja, er wird weiterleben.


Todesvisionen, pulsierende Wände, sanftes Mondlicht, Abschied.


Erschreckend, wie schnell es zu Ende ging. Vater besuchte ihn im Krankenhaus: eine schwere Lungenentzündung, Bastian konnte kaum atmen. "Vater, verzeih mir." Sein Körper bäumte sich ein letztes Mal auf. "Vater, verzeih mir", weinte das innere Kind.


Dir ist verziehen, gehe in Frieden.
Ein größerer Vater sorgt nun für dich.


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