Evelyne Marti

Im Raumwinkel der Zeit

Essayistische Notizen
 
Das Leben ist voller kostbarer Augenblicke, wenn der sensorische Blick für das Jetzt aus seiner Alltagshypnose erwacht. Die Fokussierung auf das Jetzt im Rhythmus des Herzschlags bringt an sich eine gewisse Gleichförmigkeit mit sich, basierend auf einer einzigen Erlebnisebene, welche nur gerade den aufkommenden Augenblick einfängt, eine Reihe von Momenten, die vom nächsten Augenlidschlag ins Archiv der Vergangenheit geschoben werden, um neuen Eindrücken der nahen Zukunft Platz zu machen, die sich gerade als sich formierendes Jetzt installieren in unserem Bewusstsein.
 
Ich persönlich finde eine gewisse Berechenbarkeit vorteilhaft, wenn es nicht in Monotonie mündet. Dazu gehört Zuverlässigkeit, Verantwortungsgefühl, eine gleichbleibende, verlässliche Zuwendung und Liebe, die nicht durch Launenhaftigkeit gelenkt wird. Wir sind auf eine möglichst hohe Berechenbarkeit des Lebens angewiesen, um erfolgreich Ziele generieren und ansteuern zu können. In mir steckt eine investigative Forscherpersönlichkeit. Deshalb lebe ich immer im Blick auf ein Morgen. Sogar unsere Sterblichkeit kann mir das Morgen nicht verwehren im Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode. 
 
Wer sich auf das Jetzt konzentriert, wird auf einmal die ganz kleinen Selbstverständlichkeiten wie eine funktionierende Atmung, die wärmende Heizung, ein Dach über dem Kopf als bedeutsam und glücksbringend empfinden. Das Leid ist nur phasenweise vorhanden im Jetzt, sodass letztlich die meiste Zeit alles im grünen Bereich liegt, auch wenn viele Probleme vorliegen. Nur verliert es im Jetzt an Schwere, deshalb scheint gegenwärtig alles in Ordnung zu sein bis zu den nächsten Erlebnisfragmenten, die das Jetzt auffächert.
 
Dieses Glück im Jetzt empfinden viele als Befreiung, doch kann es auch zum Verdrängungsmechanismus werden, wenn jemand zu sehr nur im Jetzt lebt, wie Kinder es vorwiegend noch tun. Nur wer das Jetzt nicht zu würdigen weiß, dem entgeht das Leben. Das Glück wird als solches lediglich an äußeren Merkmalen gemessen, aber nicht wirklich im Jetzt habhaft und sensorisch wahrgenommen erlebt.
 
Ich bin zutiefst dankbar für das Jetzt, das pulsierende Leben, den weich aufgedrückten Kuss, den ich in liebevoller Umarmung erhalte im Jetzt und dessen Hauch noch länger auf meiner Wange nachwirkt und mir Geborgenheit verleiht. Selbstverständlich? Nein, ein Geschenk des Lebens, das "Leben" selbst. Das Leben ist, wie der biblische König Salomo es bereits zeitlos ausdrückte, ein Haschen nach dem Wind. Deshalb genieße den Augenblick, bevor er unwiederbringlich vorbei ist!
 
Ungeachtet der Sachzwänge, Motivationen, Gefühle und Gedanken gibt es jenseits davon einen Moment des Wendepunkts, wo wir um uns blicken und die Frage im Raum steht: Will ich diesen Weg weitergehen? Auf einmal weitet sich der Horizont und eröffnet eine Vielzahl von anderen Lebensentwürfen und Möglichkeiten, die für uns bereitliegen und deren Wirklichkeit allein davon abhängt, wofür wir uns entscheiden und welchen ihrer Domino-Steine wir anstoßen werden. Wir haben grundsätzlich die Wahl trotz der Einschränkungen, Hürden, Hindernisse und Steine, die sich vor uns aufzutürmen scheinen.
 
Es bleibt uns immer die Wahl des Augenblicks, die kleinen Entscheidungen des Alltags, wo wir innehalten und uns nach links oder nach rechts wenden, stehen bleiben, zurückgehen oder eine Mitte suchen. Jeder neue Augenblick bietet wieder die Chance, sich neu auszurichten und einen vielleicht ganz anderen Weg einzuschlagen. Es liegt allein an uns, wie wir diese kleine Wahlfreiheit nutzen, ob sich daraus etwas Großes ergibt oder vom Alltag erstickt wird, es einen bereits eingeschlagenen Lebensplan vorantreibt oder diesen zum Stillstand bringt.
 
Wichtig erscheint mir, sich dessen bewusst zu sein, zu wissen, dass wir eine Wahl haben, wenn sie auch begrenzt erscheint. Es liegt an uns, neue Optionen zu wählen, den bisherigen Rahmen aufzubrechen, den alten Weg loszulassen, sich nicht von anderen bestimmen zu lassen. Lege nie diese letzte Wahl aus Deinen Händen.
 
Schön ist, wie entscheidend sich schon die kleinen Wahlmöglichkeiten des Alltags auf unser Leben auswirken, vergleichbar mit dem sprichwörtlichen Flügelschlag des Schmetterlings auf der anderen Seite des Erdballs. Unter Umständen kann ein einziger Augenblick unser ganzes Leben komplett verändern. Oder die Summe all der kleinen Entscheidungen für etwas und gegen eine andere Sache treibt uns Perle für Perle zu einer Kette reihend in eine gewünschte Richtung, die wir so nicht angegangen wären, hätten wir nicht die Wahlfreiheit des Augenblicks genutzt und uns dafür freigemacht durch eine Entscheidung gegen etwas, das diesen Lebensentwurf verhindert oder aufgehalten hätte. Jede Entscheidung für etwas bedeutet eine Entscheidung gegen etwas. So bleibt uns nur noch die Qual der Wahl.
 
Wer kennt das nicht, die Erkenntnis, wie wenig Zeit uns im Grunde bleibt in allem, was wir tun. Wer hat sich nicht schon über den Umstand geärgert, Zeit vergeudet zu haben, im Bewusstsein, dadurch etwas versäumt zu wissen, das Leben selbst. Pläne, die nicht realisiert wurden, Träume, die zerplatzten, weil es uns an Disziplin oder schlichtweg an Zeit fehlte, die wir anderen Dingen widmeten oder gar scheinbar grund- und sinnlos verschwendeten, vielleicht auch brauchten, es letztlich nicht lief wie ursprünglich geplant, das Leben dadurch eine andere Richtung nahm, wir schmerzlich eingestehen mussten, unseren eigenen Erwartungen nicht nachgekommen zu sein, es zugelassen zu haben, von oftmals auch unwichtigen Dingen aufgehalten und abgelenkt worden zu sein, die Zeit nicht wirklich sinnvoll genutzt zu haben.
 
Spätestens jetzt folgt eine unendlich sich wiederholende Kette an Rechtfertigungsschlaufen, um vor uns selbst bestehen zu können und den Ärger über die eigene Nachlässigkeit abzuschütteln. Ganz gewiss mit Recht, vielleicht waren die Ziele auch unrealistisch und nicht wirklich geeignet zur Umsetzung. Und doch wäre hier nur noch eines zu sagen, bevor wir uns in den nächsten Irrgarten an Zeitfallen begeben:
 
Es liegt an Dir selbst, es jetzt zu ändern!
 
Copyright © 2004-2014 by Evelyne Marti
relectis.ch Alle Rechte vorbehalten