Evelyne Marti

 

Kriminalpoetologische Erzählbausteine

 

Essayistische Notizen

 

Wie bereits in früheren Jahrhunderten die Menschen im Laufe der Zeit begannen, mit zuerst als wahr empfundenen Vorstellungen, wie sie in den noch geglaubten Volkssagen tradiert wurden, spielerisch umzugehen in den Volksmärchen und spannungsgeladenen Schauergeschichten, die am Lagerfeuer mit aufgerissenen Augen erzählt wurden, so arbeitet die poetische Literatur auf ähnlich spielerische Weise mit Erinnerungen, wie es Träume seit ehedem spontan manifestieren. Dort liegt der vielschichtige Kern der poetischen Kriminalerzählung. 

 

Die Träume arbeiten diesbezüglich vor, indem sie Elemente des Lebens als Bausteine für ihre zugrundeliegenden, assoziativ verschlüsselten Aussagen und Bedeutungen auf einer Metaebene nutzen, dies in Form von fiktiv erschaffenen Traumverschmelzungen, Mischgestalten, geografischen Überlappungen, Zeitraffungen usw., wie meine folgende Werkinterpretation veranschaulicht:

 

Evelyne Marti

 

Franz Kafka – Ein Landarzt

 

Eine Interpretation

 

Diese traumartig angelegte Erzählung übt eine berückende Faszination aus, so ähnlich wie ein großer, archetypischer Traum, der eine ungelöste Lebenssituation aufzeigen will. Die schrecklichen Geschehnisse um das Mädchen Rosa und den Jungen, dem der Landarzt zu Hilfe eilt, werden im Lichte des gedämpft traumhaften Geschehens sinnbildlich für den Menschen an sich, der in das Leben geworfen stets neu um seine Existenz ringen muss. Die fast unmenschliche Kraft, welche der Landarzt gegen die widrigen Umstände aufbringen muss, stehen für Selbsterhaltungsdrang und Kampf gegen alle lebensfeindlichen Hindernisse, gegen Gewalt, Krankheit und Tod. Alle Erwartungen sind auf ihn, den Landarzt, Repräsentant des Lebens, gerichtet: Wird er Rosa retten können? Wird er seinem Beruf, seiner Berufung, gerecht und den Jungen heilen? An die Seite des Jungen gelegt hat er auch Anteil an dessen Zukunft. Das Schicksal des Jungen und Rosa ist auch sein Schicksal. Traumpsychologisch gesehen ist alles miteinander zu einer Grundsituation verwoben, Menschen, Pferde, Aspekte des einen zentralen Kampfes um die Rettung des Jungen mit der rosa Wunde, Rosa und Junge eine Einheit, Sinnbild des bedrohten Lebens, das vom Landarzt, Inbegriff der erhofften Heilung, gerettet werden soll.

 

Kafkas Stoffrepertoire waren vorwiegend seine Träume, welche er schriftstellerisch verarbeitete. Ich amplifiziere zuerst mit einem meiner Träume, um mich der Geschichte anzunähern: Ich träumte, ich hätte eine riesige, kreisrunde Wunde im Bauch, wie ausgeschnitten, geometrisch exakt herausgehoben, als hätte ein Chirurg ein Stück wegoperiert. Es tat nicht weh und ich litt auch sonst nicht, war nur sehr verwundert über das kraterförmige, handbreite, runde Loch in meinem Bauch. Doch bald entdeckte ich rote Ameisen darin, welche ständig im Kreis herumliefen. Sie müssten das Loch durch ihr fleißiges Wandern eingelaufen haben, sinnierte ich fasziniert. Als ich aufwachte, knurrte mein Magen, ich verspürte riesigen Hunger. 

 

Zum Loch-im-Bauch-Traummotiv: Bei mir war es Sinnbild meines Hungers, weil ich mit "Loch im Bauch" spontan Hunger verknüpfte. Dieses Sinnbild stammte aus meiner Kindheit, wo mir ein Mädchen erklärte, wie Hunger und Sattsein in ihrer Familie spaßeshalber signalisiert wurde: bei Hunger die Hand als Bogen gegen den Bauch gerichtet, ein dargestelltes Loch, und wenn sie satt war, ein gewölbter Bogen über dem Bauch, die Andeutung eines Bäuchleins. Solche Dinge übernimmt der Traum regelmäßig wie einen persönlichen Code.

 

Bei Kafkas Traumvorlagen müssen ähnliche Bezüge zu seinem realen Leben existiert haben. Der Auslöser für die Wunde muss jedoch nicht der Hunger sein. Es kommt darauf an, womit er die "Wunde an der Seite" usw. verknüpfte und was er zu jener Zeit erlebte und assoziierte. 

 

Ich erinnere mich noch an einen anderen Traum, der vom Zusammenhang her mehr Licht in die Traumsprache von Kafkas Landarzt werfen könnte: Ich kam in einen sonnig durchfluteten Raum, unserer damaligen Wohnung ähnlich; doch erschrak ich beim Eintreten, denn auf dem Fußboden lag ein merkwürdiges Holzgerät und daran angebracht, oh weh, ein Fuß und zwei Finger, blaurot verfärbt und aufgequollen. Ich dachte sofort an eine bestimmte Angehörige meiner Familie, blickte durch das Fenster in die Ferne, zum nahen Fluss hin, wo ich ihren Mörder vermutete. Auf einmal war das morbide Spielzeug weg und erleichtert sah ich besagte Angehörige unversehrt den Raum betreten. Trotzdem sorgte ich mich. Irgendetwas stimmte nicht. Da befand ich mich auf einmal in einem anderen Raum, wo eine Frau, eine Weiße Wandlerin, auf einem Holzstuhl saß; aus demselben Holz wie das merkwürdige Gerät, dachte ich bangend. Ich fühlte mit absoluter Gewissheit: Ich durfte diese Weißwandlerin nicht berühren, von ihrer flüssig weißen Gestalt ging etwas Bedrohliches aus. 

 

Und nun zur Deutung: Meine Angehörige bekam tatsächlich einen blaurot verfärbten Fuß; zwei Finger fingen ebenfalls an, blau aufzuquellen (= morbides Holzgerät mit Fuß und zwei Fingern). Es stellte sich heraus, dass meine Angehörige von einer lebensbedrohlichen Infektion, welche sie sich bei ihrem Spaziergang am nahen Fluss barfuß zugezogen hatte ( = Mörder am Fluss), eingeholt wurde. Ihre Weißen Blutkörperchen vermehrten sich durch die Infektion, wogegen sie sofort Antibiotika einnehmen musste ( = flüssig Weißer Körper der Wandlerin). 

 

Auf Kafkas Landarzt bezogen: 

 

Der Vergewaltiger ist in diesem Fall nicht 1:1 zu verstehen, dagegen spricht auch die Parallele Rosa und rosa Wunde, sondern versinnbildlicht die Lebensbedrohlichkeit der Wunde (so wie in meinem Traum der Mörder und die Weiße Wandlerin). Dass es nicht ein Mörder ist, sondern "nur" ein Vergewaltiger, spricht für den offenen Ausgang der Szene. Es ist nicht klar, ob der Junge stirbt, auch wenn die Hoffnungslosigkeit des Arztes dafür spricht. 

 

Im Jahre 1917, als die Erzählung Ein Landarzt entstand, wurde auch Kafkas Lungentuberkulose entdeckt. Es steckt also tatsächlich ein realer Sachverhalt hinter der Geschichte: Der Junge IST Kafka. Die TBC war schon da, bevor sie vom Arzt "erkannt" wurde, wie die Wunde des Jungen. Kafka träumte nicht gleich von einem Mörder (akute Todesbedrohung), sondern "nur" von einem Vergewaltiger, weil der Tod nicht sofort eintreten würde, sich stattdessen noch über Jahre als Leiden dahinzog. Kafka musste gefühlt haben, wie zentral dieser Traum für ihn noch werden sollte, deshalb die Ausarbeitung zu einer Erzählung. Wahrscheinlich war es ihm noch nicht voll bewusst, als er seinen Traum verarbeitete. Das Unbewusste greift da manchmal vor.

 

Auch wenn Kafka nicht ausschließlich Träume verarbeitete, litt er darunter, wenn seine Erzählungen und Romane nicht wie aus einem Guss seinem "Traumleben" (in unruhigem Halbschlaf auf seiner Couch) entsprangen und gleich niedergeschrieben wurden. Er versuchte, die unmittelbare Wahrhaftigkeit und Erlebnisfrische seines Traumlebens in die Texte zu transportieren. Dieses Gefühl der Traum-Evidenz konnte er vor allem bei seinen Romanen nur schlecht aufrechterhalten, weshalb er zeitlebens in großem Zwiespalt lebte. Kafka wollte sicherlich nicht "nur" seine Alpträume aufschreiben. Im Gegenteil: Er erkannte die wahre Vielschichtigkeit und "hohe Intelligenz" der Träume und tat sie nicht ab, wie die meisten es heute noch tun, sondern eignete sich das Traumleben als durchgängiges Stilmittel an, so wie James Joyce den Bewusstseinsstrom als Romanform etablierte. 

 

All die bizarren Erzählelemente in der Landarzt-Erzählung (z. B. das Verhalten der Pferde) lassen sich durch die von Freud genannte Traumarbeit erklären. Kafka verstand es, diesen Traumprozess schriftstellerisch zu erfassen, dessen Strukturen aufzuzeigen und auf literarisch höchstem Niveau erweiternd auszuarbeiten. Die Pferde sind ein nennenswerter Aspekt, doch glaube ich nicht, dass es dabei um eine symbolisierte, verdrängt sublimierte Sexualität geht, denn die Vergewaltigungsbedrohung wird aus Sicht von Rosa und K. als reinste Gewalt erlebt.

 

Man bedenke die Wortähnlichkeit zwischen ROSA und ROSS. Und welche Farbe hat Blut? ROT. Und die ROTE Wunde wird zudem noch farblich als ROSA bezeichnet. Solche Wort-Bild-Verschmelzungen sind typisch für Träume, welche Kafka hier eindeutig in seiner Erzählung literarisiert. Von meinen Träumen her weiß ich, wie Wortbegriffe aus der Realität im Traum bildhaft codiert wiederkehren. Tuberkulose z. B. hat dieses betonte -OSE. Der nächstliegende Vorname auf -OSE wäre tatsächlich ROSE oder ROSA, gerade in Kombination mit Blut = ROT + -OSE = ROSE = ROSA. Und es heißt "die" Tuberkulose, also traumlogisch eine Frau. Auch ROSS könnte aus ROT und -OSE assoziiert worden sein. Bauernrosse haben meist ein ROTbräunliches Fell, wie getrocknetes Blut. 

 

In meinen Träumen sind solche Codierungen die Regel, denn im Traum ist das Gehirn ja bekanntlich nicht ausgeschaltet, nur auf bildhaft denkende Gehirnregionen reduziert, deshalb auch dieses Traumsprachdenken. Traumlexika sind da wenig hilfreich; es kommt immer auf die Assoziationen des betreffenden Träumers und den Kontext im Traum an, was in der Landarzt-Erzählung u. a. aus deren Textimmanenz und Kafkas Biographie herausgelesen werden kann. 

 

Der Pferdeknecht, der bald darauf von K. als Vieh betitelt wird, kommt auf allen Vieren aus dem Schweinestall und offeriert die fehlenden Pferde, welche von K. später mit "Säuen" verglichen werden. Pferdeknecht = ROSSknecht, kommt aus dem Stall der bekanntlich ROSAfarbenen Schweine, geht wie ein Schwein, wird Vieh genannt, ist also selbst ein ROSAfarbenes Schwein. Pferde = ROSSE, welche mit ROSAfarbenen Schweinen verglichen werden. ROSSknecht, ROSSE, ROSA, ROSAfarbene Schweine: Sie alle sind Teil der ROSAfarbenen Wunde bzw. der TuberkulOSE, welche brutal (wie ein Vergewaltiger) Kafkas Leben bedrohte.

 

Würmer mit WEIßEN Köpfchen arbeiteten in der Wunde. Das stimmt überein mit meinem geschilderten Fußinfektionstraum, wo die bedrohliche WEIßE Wandlerin die WEIßEN Blutkörperchen verkörperte (!). Da bei Entstehung der Landarzt-Erzählung Kafkas WEIßE Blutkörperchen ebenfalls anormal abwichen und Tuberkulose diagnostiziert wurde, kann von der gleichen Bedeutung ausgegangen werden. Schon allein der Gedanke an WEIßE Blutkörperchen erinnert an WEIßE Würmer im Blut, also noch naheliegender als in meinem Traum, wo sich die Bedeutung im realen Leben feststellen ließ. 

 

Es gibt noch einen weiteren Hinweis auf die traumlogisch-bildhafte Verschlüsselung, Verknüpfung und Verschmelzung des Wortes TuberkulOSE. Tuberkulose = TuBERKulose = Berk = Bergwerk = Berg, so wird die Wunde von K. ausdrücklich bezeichnet. Und noch zwei Hinweise auf die entdeckte LUNGENtuberkulose Kafkas: Die Wunde wird als "Blume" bezeichnet, mit "zwei spitzen Winkeln", was sehr stark an die Struktur und Form der zwei Lungenflügel erinnert. 

 

Wie lebensbedrohend die Wunde bzw. Kafkas gleichzeitig entdeckte Tuberkulose war, zeigt sich auch an der Todesdrohung gegen den Arzt, wenn dieser nicht helfen kann. Und so ist es ja auch, wenn er den Jungen, an dessen Seite er liegt und der K(afka)s kranke Lunge repräsentiert, nicht rettet, wird er AN DER = an der Seite der Krankheit sterben. 

 

Weshalb der Landarzt, den Kafka traumlogisch mit seinem Onkel (Arzt) assoziierte, die Wunde des Jungen zuerst nicht sah und ihn fälschlicherweise für gesund erklärte, liegt daran, dass diese Information für den Träumer Kafka noch unbewusst war und gerade erst ins Bewusstsein (Landarzt) drängte (Familie des Jungen). Das ist typisch für das Bewusstsein: Es zensiert und verzerrt unbewusste Signale häufig, will diese nicht sogleich wahrhaben.

 

Vielleicht ein nicht ganz unwichtiger Nachtrag:

Franz Kafka an Max Brod in einer Postkarte vom 5. 9. 1917:

"Auch habe ich es selbst vorausgesagt. Erinnerst Du Dich an die Blutwunde im 'Landarzt'?"

 

Aufgrund der richtigen Deutung meines intuitiven Traumes befand ich mich in der glücklichen Lage, meine Angehörige rechtzeitig außer Lebensgefahr zu bringen. Hätte ich nicht sofort den Arzt kommen lassen und ihr diesen aufgenötigt, hätte sie sterben können, erklärte der Arzt.

 

Quellen:

 

» Franz Kafka an Max Brod in einer Postkarte vom 5. 9. 1917:

https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1917/bk17-002.htm

 

» Franz Kafka – Erzählungen I - Ein Landarzt

https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/erzaehlg/chap010.html

 

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