Evelyne Marti

Reise in die Vergangenheit

Kurzgeschichte

Mutter hatte es ihr schon lange versprochen.

Jahre lagen dazwischen, nie fand sie die Kraft, ihr Versprechen einzulösen. Zu sehr lastete die Vergangenheit auf ihr. Doch war es nun mal versprochen.
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Als ich Mutter anbot, sie zu begleiten, erhielt sie auf einmal den nötigen Halt. Sie musste nicht allein dorthin, begriff ihr geknickter Körper und richtete sich auf. Ja, wir würden es tatsächlich tun, gemeinsam. Ich sprach ihr Mut zu, die Frau sei doch jetzt alt und schwach, da gäbe es nichts zu fürchten. Außerdem sei ich immer bei ihr und sie wisse ja, wie gut ich reden könne und eigentlich jeder Situation gewachsen sei. In meiner Gegenwart könne sie die nötige Distanz wahren, welche sie brauche. Und was habe sie sich auch zu rechtfertigen, habe sie doch mich und durchaus im Leben etwas erreicht. Ich würde der alten Geigerin schon beweisen, was für eine großartige Mutter sie sei. Daran könne sie gewiss erkennen, wie wenig sie versagt habe.

Nein, sie hatte keineswegs versagt, im Gegenteil, sie gab sich selbstlos für uns hin. Wenn jemand stolz auf sich sein durfte, dann meine Mutter. Wie vornehm diese Frau auch sein mochte, ich wusste mich auszudrücken und würde ihr zeigen, wie belesen und intellektuell wir waren, ihr durchaus ebenbürtig. Mit mir an ihrer Seite konnte Mutter nichts geschehen. Nicht dass ich mehr vorzuweisen gehabt hätte als sie. Aber ich würde mich wehren und nichts über uns kommen lassen. Was musste das für eine Frau sein, welche derart über andere urteilte und deren Leben begutachtete und prüfte wie ein Richter! Nur die gesellschaftliche Stellung zählte vor ihr. Einen Juristen, Arzt oder Lehrer hätte meine Mutter heiraten müssen. Nie hatte sie den edlen, selbstlosen Charakter meiner Mutter erkannt, welchen sie über jeden Stand hinaushob und die wahre Vornehmheit eines Menschen ausmacht, ungeachtet der Stellung, in die er hineingeboren oder vom Leben getragen wurde. Und immerfort dieses „Sie“, als wäre Mutter es nicht wert gewesen, nach Jahren des gemeinsamen Lebens im gleichen Haushalt ein „Du“ angeboten zu erhalten! Dafür gab es in meinen Augen keine Entschuldigung, auch nicht die Sitten von damals, nicht nach Jahren im gleichen Haus. Wenn sich jemand hätte Vorwürfe machen sollen, dann war es diese Frau, welche meiner Mutter das Gefühl gab, nicht gut genug zu sein für sie.

Mutter verhielt sich da ganz anders: Niemals gab sie mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Sie gehörte zu denjenigen, welche nur den Menschen sehen und blind sind für Attribute wie äußere Erscheinung, Stellung, Geschlecht oder Alter. Wie hasste ich es als Kind, wenn die Erwachsenen über mich hinwegsahen und mich als altklug abtaten, wenn ich meine Meinung preisgab. Meine Mutter dagegen hörte mir immer zu und nahm mich vollwertig an. Das Alter spielte keine Rolle, sie blickte mir direkt ins Herz und es war, als wäre sie so alt wie ich, als wäre auch sie noch ein Kind, alterslos, wie sie es selbst als Kind auch war, oder ich erwachsen. Das spürten auch andere Kinder, deshalb wurde mir immer wieder freudestrahlend erklärt, was für eine tolle Mutter ich habe. "Ja, das ist wahr", erwiderte ich stolz. Ich kannte keinen Menschen, der so selbstlos war wie sie. Wie konnte diese Frau meine Mutter derart verkennen!

Ich genoss es, mit Mutter zu reisen. Die letzte gemeinsame Bahnfahrt lag Jahre zurück. Um ja dem strengen Blick der alten Geigerin standzuhalten, hatten wir uns fein gemacht und trugen unsere besten Kleider. Wir sahen gut aus, fand ich. Ja, wir konnten uns sehen lassen, klassisch einfach, doch gerade darin lag das Geschmackvolle, das wusste jeder modisch Bewusste. Nun ja, wir trugen nicht gerade den letzten Hit, aber für unsere Verhältnisse war es annehmbar. Wir mussten uns zumindest nicht schämen. Die Kleider sahen nicht abgetragen und auch nicht ganz alltäglich aus, ein bisschen besser schon. Oder dann zumindest gut genug für den Alltag. Wir gingen ja schließlich nicht an eine Krönung. Es sollte reichen. Außerdem war die alte Geigerin auch nicht reich. Es war nicht anzunehmen, dass ihre Kleider wesentlich anders aussahen als unsere, nur altmodischer, passend zu einer Frau aus einer anderen Zeit. Und wir hatten die Jugend auf unserer Seite, zumindest im Vergleich zu ihrem beträchtlichen Alter. Das Gesicht meiner Mutter war nahezu faltenlos. Sie sah viel jünger aus, obwohl sie auch schon Rentnerin war.

Während der Zug durch den Raum glitt, begann unsere Reise durch die Zeit. Es war, als säßen wir rückwärts und führen auf einen hohen Berg. Ein beklemmendes Gefälle dehnte sich aus. Während das Ziel unserer Reise in unmittelbarer Nähe lag und die eigentliche Fahrt nicht einmal eine Stunde umfasste, war es, als befänden wir uns auf einer unendlichen Raum-Zeit-Schlaufe. Die Zeit wurde räumlich fühlbar, ein ganzes Leben lag vor uns, eine Zeitreise in die Vergangenheit. Eine unsäglich bedrückende Vergangenheit, welche sich mit ihrem steten Näherkommen wie ein Schatten auf Mutter legte. Je mehr wir uns dem Zielort näherten, desto gebeugter ihre Haltung, umso befremdlicher ihr Wesen, das sich der veränderten Zeit anzupassen schien. Das war nicht mehr Mutter, so wie sie mir vertraut war, sondern die Frau von damals, jünger als ich sie je gekannt hatte, noch vor meiner Geburt, als mein Bruder ein Baby war und sie mit ihm bei dieser Frau zur Untermiete wohnte.

Das Städtchen lag wie ehedem vor uns. Die Altstadt hob sich hügelig neben modernen Bauten, wo einst die Kleiderfabrik stand. Dort arbeitete Mutter damals und entwarf Modelle und Schnittmuster. Es war, als sähe ich das Gebäude vor mir, als schritten wir räumlich in eine Vergangenheit hinein, die neben der Gegenwart weiterbestand als eigenen Sektor der Stadt. Der gepflasterte Weg nach oben erwies sich als unglaublich beschwerlich, doch gingen wir tapfer vorwärts. Die zierlich alten Häuser stellten sich manierlich gepflegt und lebensfähig zur Schau. Wir betraten „ihren“ Bereich, verloren unseren Status, zu Gästen entrechtet in einem Raum, den sie beanspruchte. Als hätte sie uns damit auch einen Teil unseres Lebens genommen, heimatlos geworden, ihrem Urteil ausgesetzt.

Das Gebäude sah reich aus, altertümlich und gediegen, gut erhalten, als könnte die Zeit dem Gemäuer nichts anhaben, eine Unversehrtheit, welche in ihrer Zeitlosigkeit einen unerhörten Widerspruch in sich barg. Auf einmal waren all die Erzählungen aus längst vergangener Zeit reale Gegenwart. Ort und Schauplatz gab es wirklich. Es war alles da, als wären die Jahrzehnte dazwischen ausgelöscht. Angekommen fühlte es sich an, als hätten wir gerade eine Zeitverschiebung hinter uns. Zu müde, um aufgeregt zu sein, klingelten wir an der Pforte des ehrwürdigen Hauses.

Eine alte Frau öffnete die eherne Eichentür und begrüßte uns freudig. Das war sie also: die Frau mit den eindringlichen Augen, vor denen niemand bestehen konnte. Sie wirkte erschreckend zerbrechlich, eine Greisin, der Neunzig nicht mehr fern, ihr Rücken bucklig, zitternd ihr Gang, wobei jeder Schritt am Krückstock nur mit größter Mühe vonstattenging. Und trotzdem war da eine vornehme Haltung von Stolz und Würde in diesem unscheinbaren, gebeugten Körper zu erkennen, ganz deutlich und schon fast gebieterisch. Instinktiv wussten wir, dass sie unsere Hilfe als unhöflich empfunden hätte. So langsam ihre Bewegungen auch waren, wir ließen sie still gewähren in ihrer strebsamen Gastfreundlichkeit. Augen und Gesicht zeigten eine wache Intelligenz, eine gebildete Frau aus einer Zeit, wo Frauen dafür kämpfen mussten. Ich konnte nicht umhin, sie zu mögen und zu bewundern für ihre gelebte Würde, welche durch nichts zu erschüttern war, sondern gerade in ihrer körperlichen Hinfälligkeit hervorstach. Schweigend beobachteten wir, wie sie mit der Vorspeise, einer würzigen Suppe, in kleinen, langsamen Schritten aus der Küche zu uns an den langgezogenen, gedeckten Tisch hinkte und uns bediente.

Der Raum war gefüllt mit alten Erinnerungen: überall Bilder, Behänge, Figuren, Bücher und Fotoalben. Sie war eine Sammlerin, jeder Gegenstand besaß seine Geschichte, zu jedem Foto wusste sie etwas zu erzählen: Familie, Tanten, Onkel, Nichten, Neffen, Freunde, Schüler, Bekannte. Sie alle waren konserviert für die Ewigkeit. Sie sammelte Leben, Biografien. Da hingen auch ihre Geigen und sie erzählte von ihren Schülern, welche ihr Fotos von ihren Familien schickten. Sie kannte so viele Menschen, ein ganzes Regal voller alter und neuer Alben. Und schon hielt sie unsere Familie in Händen, Bilder von Mutter und dem kleinen Baby, meinem Bruder, wie er aufwuchs, eine perfekte Dokumentation seiner Kleinkind-Zeit. Lebenshungrig wandte sich die alte Geigerin uns zu, der gefürchtete durchdringende Blick auf uns gerichtet.

Mutter saß links neben mir auf der milchig weißen Couch. Sie starrte nach unten, als wäre sie eines ihrer Schulmädchen. Es war, als hätte die Alte ihren Buckel auf meine Mutter gewälzt und wäre nun frei, während Mutter unter der Last zusammenfiel. Wie also sei unser Leben seither verlaufen, war die indiskrete Frage. Ich begann, für uns zu reden, verfiel bald in Rechtfertigungen, denn in ihrem gierigen Blick lag etwas vampirisch Forderndes, dem in keiner Weise zu genügen war. Ein Urteil lag darin, das Jüngste Gericht. Erschreckend, wie blass und hilflos Mutter neben mir zusammensank, asthmatisch schwer ihr Atem. Und ich verstand. Endlich verstand ich, worum es der Geigerin wirklich ging, nicht um uns, nicht um unsere Gefühle, wie viel wir gelitten, was wir alles auf uns genommen hatten. Nein, sie wollte nur unsere Geschichte. Sie liebte Biografien. Zu keinem dieser Menschen hatte sie wirklich Bezug. Es waren die Geschichten, welche sie faszinierten, die Chronologie der Lebensstationen: Geburt, Heirat, Kinder, Enkel, das volle Leben von Generationen. Sie war Archivarin dieser Leben, eine leidenschaftliche Sammlerin, und ich gab ihr die Daten, listete alle möglichen Verwandten auf, damit sie von uns abließ.

Endlich der Abschied, eine müde Heimreise, die Fahrt ein Leerlauf.

Bald darauf erfuhren wir, sie sei schwer erkrankt und habe alles verloren, das Haus, alles. Noch vor unserem nächsten Besuch starb sie.

Aus dem Nachlass erhielten wir ein Päckchen zugesandt: Es enthielt das Fotoalbum unserer Familie.

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