Evelyne Marti

Sorgfalt und Sachlichkeit

Essayistische Notizen
 
In Bezug auf eigene Ansprüche und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gilt die subjektive Wahrnehmung als wesentlich. Wo allerdings Sorgfalt und Sachlichkeit als primäre Faktoren in vorschriftsmäßig gegebener Voraussetzung hinzukommen, gerade in dafür prädestinierten Berufen, stören Urteile, die nicht aus einer objektiven Begründung resultieren. Wie etwa muss sich ein Richter verhalten? Er darf eine Verfügung nicht mit persönlich gefärbten Worten wie "Jetzt reicht´s mir, nun endet meine Geduld!" erlassen, der zufolge der Verurteilte ins Gefängnis wandert. In diesem Beispiel gäbe es ausreichend Gründe, den Verurteilten in Erwägung einer sachlichen Faktenprüfung ins Gefängnis zu überführen, weil die objektive Beurteilung der Straftat dies erfordert. Eine stimmungsabhängige Herangehensweise des Richters wäre jedoch fatal, auch wenn eine faktenbezogene Betrachtung in diesem Beispiel letztlich zum gleichen Ergebnis führt und deshalb in diesem speziellen Fall nicht ersichtlich wäre, inwiefern der Richter falsch entschieden hätte. Die subjektive Sichtweise angesichts der jeweiligen Sachlage wirklich und wahrhaftig aufzugeben, tatsächlich objektiv zu urteilen und sachlich zu argumentieren, steht jedoch außer Frage.
 
Solche verfehlten Haltungen finden sich öfter in beruflichen Situationen, wo vielfach subjektive Beweggründe genannt werden von Leuten, die eigentlich professionell ausgebildet wären, es aber nicht für notwendig erachten, sachliche Gründe aufzuführen. Es hinterlässt den Eindruck, als ob solcherart Berufstätige sich zu sehr mit ihrer beruflichen Funktion identifizieren, sich darin auf selbstbezogene Weise eigenmächtig profilieren und von sich selbst als Verfügungsberechtigte oder Vorgesetzte besonders vehement in der Ich-Person sprechen, wodurch ihre Weisungen einen ausgeprägt gefühlsmotivierten Charakterzug erhalten und nicht mehr so ohne Weiteres den objektiven Verfügungshintergrund der eigentlichen Berufsfunktion aufweisen. Dadurch werden auch die Begründungen unsachlich und unprofessionell. Es öffnet Tür und Tor für jede Art von Willkür, je nach Stimmung des Funktionsträgers (ob nun Richter, Beamte, Vorgesetzte oder Lehrmeister, Lehrer usw.).
 
Sachlichkeit heißt nicht etwa Unmenschlichkeit, ganz im Gegenteil: ein objektives Abwägen und Einbeziehen der jeweiligen Faktenlage und des gesamten Sachverhalts, wozu selbstverständlich auch eine humane Behandlung der Involvierten gehört. Nur sollte diese nicht mit den individuellen Haltungen des Funktionsträgers verknüpft erscheinen und in Abhängigkeit von dessen Befindlichkeiten oder gar Impulsivität auftreten. Wenn ein verfügungsbevollmächtigter Funktionsträger eine Weisung aufgrund einer impulsiven Reaktion ausführt und begründet, ist das nicht in Ordnung, auch dann nicht, wenn er auf der Sachebene zum gleichen Ergebnis gekommen wäre. Ein solches Verhalten ist äußerst unprofessionell. Trotzdem tritt es sehr häufig auf in allen Hierarchie-Stufen.
 
Jemand könnte womöglich von einer anderen übergeordneten Wahrheit sprechen, einer eher "emotionslosen" Zielrichtung. Es wird jedoch durchaus von ethisch-humanen Richtlinien ausgegangen, wobei nicht nach Gutdünken gehandelt werden sollte im Beruf, sondern jeder die gleiche, ethisch korrekte Behandlung erfährt, ungeachtet der Person, ihres Standes, der Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie usw. Gerade dieser Umstand bedingt eine in der Tat menschlich ausgerichtete berufliche Herangehensweise, infolgedessen auch ein freundliches Verhalten sehr wohl beruflich erforderlich erscheint. Es heißt keineswegs, eine Maschine zu sein. Und nein, es bedeutet auch nicht, ein "System ohne Menschlichkeit" anzustreben.
 
Deshalb erfolgen die Erläuterungen an konkreten Beispielen wie eingangs durch die geschilderte Grundsituation mit dem Richter. Dieser kann nicht einfach von persönlichen Gefühlen geleitet einen Fall besonders milde beurteilen, wenn ein anderer für denselben Tatbestand ins Gefängnis gehen müsste. Das wäre nicht gerecht, sondern würde auf Befangenheit hindeuten. Trotzdem kann er natürlich menschlich handeln, indem er z. B. jeden Angeklagten - ungeachtet der Person und unabhängig von persönlichen Sympathie-Erwägungen - freundlich anspricht und gewissenhaft behandelt. Sachlichkeit muss sich nicht unbedingt als kühle Distanziertheit äußern. Das wäre wieder ein stimmungsabhängiges Gefühl, nämlich eher Ablehnung, Abwertung. Auch das wäre in gewisser Weise unprofessionell und unsachlich, wieder eine Laune, die nicht beruflich motiviert entsteht.
 
Bei diesem Beispiel wäre es ebenso verfehlt zu sagen: "Eigentlich dürfte ich es nicht tun, aber bei DIR mache ich eine Ausnahme!" Bezogen auf alle Berufe gehen solche subjektiven Verhaltensweisen mit Benachteiligungen und Vorzugsbehandlungen einher, die manche gleicher machen als andere, was ebenso unprofessionell anmutet. Menschlich mag es vielleicht wirken, aber nicht unbedingt ethisch korrekt. Es sei denn, "professionell korrekt" bedeutet ein gefordertes inhumanes Verhalten in einem inhumanen System. Dann wäre es natürlich falsch, aber für alle gleichermaßen untauglich und prinzipiell kein Grund für Vorzugsbehandlungen und Benachteiligungen, was in einem solchen Fall allerdings obsolet wäre. Sachlichkeit bedeutet zudem, von vornherein ein inhumanes System objektiv als solches zu erkennen und auszuschließen, denn es hieße, sich nicht auf subjektiv-selektive Weise von solchen in sich unstimmigen inhumanen Systemen ohne jegliche objektiv-gerechte Basis vereinnahmen zu lassen.
 
Viele tun sich schwer mit dem Begriff der Sachlichkeit, weil damit eine grundsätzliche Entpersonalisierung assoziiert wird. Dagegen sträubt sich das Subjekt, es will als Mensch gesehen werden. Sachlichkeit scheint dies auszuklammern, doch gerade das ist ein Irrtum. Sachlichkeit gibt einen gewissen Rahmen vor und vermittelt gleichzeitig Freiraum, worin sich das Subjekt durchaus wohlfühlen kann, wo jeder Mensch gleichermaßen zu seinem Recht gelangt, so weit dies den Umständen entsprechend möglich ist. Gerechtigkeit für alle.
 
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