Evelyne Marti

Verwehter Sandstaub

Kurzgeschichte

Vaters Grab lag verwüstet da, als hätten unsere Tränen den Boden durchtränkt und ihm jede Hoffnung auf keimende Blüten genommen. Es gab nichts als Staub, keinen Trost. Und wenn da eine Blüte gewesen wäre, eine kleine, zarte Rose vielleicht, so hätte sie nur weh getan in ihrer unpassend schönen Schauerromantik. Nein, es war gut, diese Einöde, was die Leute auch sagen mochten. Alles andere wäre eine bösartige Lüge gewesen, Dornen in Wunden, die auf keine Heilung hofften.
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Rieselnder Sandstaub in bauchigem Glas, verrinnende Zeit.

Träumend vom Staubwind fortgetragen, sah ich auf einmal den weiten Strand vor mir, den endlosen Ozean. Ja, das erste Mal wieder Leben, ein Glücksgefühl, das tiefblaue Wasser einatmen, sich darin verlierend. Da: ein offenes Grab, Vater lag darin. Er soll leben! Es war nur ein Spiel, eingebuddelt im warmen Sand. Schnell schaufelte ich ihn frei. Er soll leben! Sein Körper vom heißen Sand erwärmt, lebendig. Und tatsächlich, es war alles in Ordnung. Er stand auf, etwas verwirrt, aber lebendig. Vater! Sein Gesicht fühlte sich weich und samtig an. Seine Augen leuchteten gütig. Er lächelte liebevoll, so wie immer, sein jungenhaft schelmischer Blick nahm mich voll ein. Ich hatte ihn wieder. Er lebt! Es war alles nur ein dummes Spiel gewesen, Totsein-Spielen, aber jetzt war alles wieder gut.

Als ich ihn nach Hause mitnahm, sah mich Mutter ungläubig entsetzt an. Doch schwieg sie und als sie merkte, dass es wirklich Vater war, der da auf sie zukam und sie herzlich umarmte, wusste auch sie: Alles wird gut. Und bald war es wie ehedem, nur durfte niemand sonst davon wissen.

Irgendwie kam es doch heraus, nur anders, als wir dachten. Die Nachbarin, welche ihren Mann auch vor kurzem verlor, wirkte völlig verstört und ängstlich und erzählte uns schließlich in ihrer Not, ihr angeblich toter Mann sei zurückgekehrt, dem Ganzen läge eine Verwechslung zugrunde. So stand er auf einmal vor ihrer Tür und bat um Einlass. Genauer: Er gebot es ihr. Seither lebe sie in ständiger Angst vor ihm, so wie früher, nur sei er jetzt richtig unheimlich, sein Blick stier und stumpf, als hätte er alles Menschliche und Gute abgelegt. Das war nun mehr als seltsam, gleich zwei Männer, die zurückgekehrt waren!

Eines war schön daran, nun teilten wir ein gemeinsames Geheimnis, obwohl es in gewisser Weise auch belastend war, denn die Nachbarin wurde zusehends unzufriedener, weil sie sah, wie glücklich wir waren, während sie die Hölle erlebte. So musste sie nicht nur ihren Zustand, sondern auch unsere Situation als unnatürlich empfinden. Immer wieder fragte sie nach, ob wir an Vater nicht auch eine Veränderung festgestellt hätten. Und wenn wir erneut verneinten, war ihr eifersüchtiger Unglaube derart unerträglich, denn wie konnte sie Vater mit ihrem Mann vergleichen, wo er doch so lieb und gutherzig war!

Damit aber auch wirklich nichts Gegenteiliges geschähe, versuchten wir alles, um Vater im Haus zu halten, wohingegen die Nachbarin auf einmal ein Treffen zwischen den beiden Totgeglaubten herbeiführen wollte. Ein entsetzlicher Gedanke, umso mehr, als die Nachbarin nun selbst diese vielbeschriebene Unerbittlichkeit und Härte ihres Mannes annahm und auf uns eindrang, uns schon fast bedrohte, indem sie unser Geheimnis publik machen wolle.

Auch wenn wir es nie zugegeben hätten, nahmen wir durchaus eine Veränderung an Vater wahr, aber diese war eher positiver Natur und kaum Grund zur Beunruhigung. Wir schrieben es den Umständen zu, welche er durchlebte. Ja, er war nicht mehr der Alte, sondern ein besserer Mensch: gütiger, weiser, liebevoller, völlig genügsam und gefügig. Diese plötzliche poetische Weichheit in seinem Wesen ließ ihn umso zerbrechlicher und überirdischer erscheinen.

Wie konnte die Nachbarin es wagen, unseren Engel mit ihrem teuflischen Mann zu vergleichen, oder überhaupt in Erwägung ziehen, meinen Vater mit diesem grausamen Menschen zu belasten! Doch da die Nachbarin keine Ruhe gab und weiterhin drohte, gaben wir nach und vereinbarten ein Treffen. Allerdings bestanden wir darauf, dabei zu sein.

Ehrlich gesagt beunruhigte mich nicht so sehr das Aufeinandertreffen der beiden, sondern vielmehr die unnennbare Angst, welche mich mit aller Kraft und Gewalt überfiel, wenn ich nur schon den Namen des Nachbarn hörte. Je näher der Zeitpunkt des Treffens heranrückte, desto beklemmender war mir zumute. Bald fühlte ich ein Stechen in der Seite und es war, als drücke da etwas gewaltsam auf meine Brust, während ich rasselnd keuchend nach Luft rang. Doch ließ ich es mir nicht anmerken. Vater war wie immer gutgelaunt und ahnungslos, während Mutter ratlos dabeistand und sich meiner Führung überließ.

Da klingelte auch schon die Tür und herein trat die Nachbarin, hinter ihr die graue Gestalt ihres Mannes. Misslaunig legte dieser seinen federngeschmückten Hut ab und setzte sich in den zugewiesenen Stuhl, blickte lauernd um sich, als wären wir ihm mit unserer Freundlichkeit nicht geheuer. Vater starrte verwirrt zu ihm hin, seltsam entrückt, als wollte er sich besinnen, wer dies nun sei, und es nicht mehr zuordnen konnte.

Unser Nachbar erkannte ihn jedoch gleich und blickte ihm unverwandt in die Augen, während Vater aus einem tiefen Schlaf zu erwachen schien. Etwas Unheimliches ging hier vor und ich konnte es nicht verhindern, ausgeliefert und gelähmt, durch die Angst an den Stuhl gefesselt, meine Kehle zugeschnürt, zur Ohnmacht verurteilt. Wie ein geschlagenes Wild sah ich zu, wie mein Herz aufgerissen wurde.

„Wir müssen gehen.“

Mein Vater nickte dem Nachbarn zu. Ihre Einigkeit war schrecklicher als alles, was hätte folgen können.

„Wir müssen gehen.“

Ja, er musste gehen ...

Rieselnder Sandstaub, vom Wind weggefegt in die Unendlichkeit, freigelegte Konturen, in Stein gehauene Erinnerungen, das verklärte Bild eines Fischers jenseits des blauen Sees, die Rute in der Hand, ein federngeschmückter Hut - ja, das war mein Vater.

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