Evelyne Marti

Viertel vor zwölf

Kurzgeschichte

Genau eine Viertelstunde gab sie ihrem Vater jeweils, nicht mehr, denn danach wurde er zusehends gereizt. So setzte sie sich zu ihm hin auf seine Couch, umarmte ihn herzlich und wollte diese Viertelstunde seiner anfänglichen Ansprechbarkeit auskosten.

Diesmal schien er nachdenklicher als sonst, als wäre er durchaus bereit für ein tiefes Gespräch, als suchte er danach. Kritisch beobachtete sie ihn. Er wirkte bedrückt und ja, da war ein Anflug von Gereiztheit bemerkbar, schon jetzt.

„Was ist mit dir?“
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Schon fast grimmig räusperte er sich:

„Heute war kein guter Tag im Geschäft.“

Sein Blick irrte traurig umher, seine Stimme klang lebensmüde, ganz anders als sonst, erschreckend anders. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesen müden, alten Mann dem Übelgelaunten vorziehen sollte. Derart erschlagen kannte sie ihn nicht. Auf einmal erschien er so zerbrechlich.

„Ein Mann ist gestorben.“

Er schwieg. Sein Gesicht zeigte sich ungewöhnlich blass und blutleer, als fühlte er seinen eigenen Tod.

„Ich war dabei, als es geschah. Der Mann war Türke und sprach nicht besonders gut Deutsch. Vielleicht lag es daran, vielleicht verstand er die Sicherheitsanweisungen nicht. Oder jemand pfuschte bei den Sicherheitsvorkehrungen, keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Es ging alles so schnell und ich bekam es anfangs nicht einmal mit, da ich gerade ein Kundengespräch führte.“

„Was ist denn genau passiert?“

„Ach, es war ein heilloses Durcheinander, unmöglich, alles zu erzählen. Ich war gerade mit Kunden im Lager, bei den Edelstahlrohrbeständen, als auf einmal bei den Maschinen jemand aufschrie. Der Türke, wohl ein Neuling, hatte eine freie Hochspannungsleitung angefasst. Der elektrische Schlag tötete ihn sofort. Jede Hilfe kam zu spät.“

Wieder schwieg er. Seine Stimme klang wie aus einer anderen Welt, tonlos und triste. Unsicher spähte sie zu ihm hin.

„Es gab doch schon mal einen Unfall bei euch, nicht? So weit ich mich erinnere: etwas mit einem Bagger.“

„Ja, als bei uns auf dem Fabrikgelände umgebaut wurde, drehte der eine Bagger und traf mit der Schaufel einen der Bauarbeiter. Wie es genau ablief, weiß ich auch nicht. Der Mann starb. Ist jetzt auch schon gute drei Jahre her.“

„Die ließen wohl auch Familien zurück“, sinnierte sie betroffen.

„Ich weiß es nicht, vielleicht.“

„Du selbst warst aber noch nie in Gefahr, oder?“

Der Gedanke, ihm könnte etwas zustoßen, nahm auf einmal bedrohliche Gestalt an.

„Nein, ich passe auf. Ich arbeite ja schon über dreißig Jahre dort, da kennt man sich aus. Außerdem bin ich für die Kunden zuständig und arbeite nicht an den Maschinen.“

Er wandte sich gerührt zu ihr und blickte sie liebevoll an:

„Keine Sorge!“

Für diesen Augenblick stand nichts zwischen ihnen, nur tiefes Einverständnis, etwas, was sie nur selten mit ihm erlebte. Es war, als hätte ein Schmetterling seine verlorene Freiheit zurückgewonnen.

„Hat es den Mann eigentlich geköpft? Den mit dem Bagger, meine ich.“

„Nein, glaub ich nicht, hätt´ ich wohl gehört, wahrscheinlich Genickbruch.“

„Enthauptet hätte brutal ausgesehen, das wär bestimmt weitererzählt worden, all das Blut, was da geflossen wäre, der kopflose, bluttriefende Körper und irgendwo der abgetrennte, zertrümmerte Kopf.“

„Das erinnert mich an den Traum von gestern, da war ich zuhause, dort, wo ich aufgewachsen bin. Du hast ja das Haus gesehen, das mit dem dunkelvioletten Anstrich. Wir hielten da Hühner, einer davon ein Hahn. Auf einmal liefen alle mit blutigen Hälsen ohne Köpfe herum, irgendjemand hatte sie gleich reihenweise geschlachtet, total verrückt, der Traum!“

Er schüttelte verständnislos den Kopf, was hatte ihn da bloß geritten.

„Unsere Kaninchen früher hast du ja auch schlachten lassen.“

„Nein, die erschoss ich, weil mir das Schlachten zu brutal erschien.“

„Wir Kinder hingen so sehr an den Kaninchen. Wir versuchten, sie zu verstecken, als der Grieche kam, aber es war zu spät.“

„Der Grieche wollte sie mit dem Messer an der Kehle aufschneiden, ließ ich ja dann nicht zu, wäre zu blutig geworden.“

Die Erinnerung war auf einmal gegenwärtig: vor ihr das Haus mit den Ställen. Jemand schoss auf die Kaninchen. Sie dachte bisher immer, es sei der Grieche gewesen. In Wirklichkeit war´s also Vater.

„Du hast die Kaninchen vergeblich getötet, kein Stück rührten wir an und ich werde nie Kaninchen-Fleisch essen, niemals.“

Die Bitterkeit von damals ergriff sie derart unmittelbar, als spräche das fünfjährige Kind zu ihm.

„Ja, wenn ich das gewusst hätte, all die Arbeit umsonst.“

„Ich verstehe nicht, wieso du es getan hast.“

„Das tut man eben, hat man bei uns früher immer so gemacht mit Kaninchen. Wozu sind sie sonst nütze? Ich kannte mal einen Mann, der wollte für unsere Männerrunde kochen. Der brachte das Fleisch noch lebendig mit, damit es möglichst frisch blieb. Er spielte noch eine Weile Karten mit uns und streichelte fortwährend unser Abendessen, ein Kaninchen, das er eine halbe Stunde später schlachtete. So läuft das. Lieben tun wir die Tiere trotzdem.“

„Und du hast davon gegessen? Das könnte ich nie! Eine surreale Vorstellung, wie er das Kaninchen vorher noch streichelt und dann tötet. Das will mir nicht einleuchten. Wie konnte er das nur tun, nachdem er es vorher offensichtlich noch liebgewann!“

„Ja, zugegeben, ein bisschen seltsam war es schon. Aber mein Traum von den kopflosen Hühnern war schlimmer. Überall Blut und Tod und vor allem die herumrennenden Hühnerkörper ohne Köpfe!“

Der Traum schien ihn stark zu beschäftigen, als wäre er bedeutsamer, als es einem gewöhnlichen Alptraum zustand.

„Erinnert mich an die alten Volksmärchen und Sagen“, fiel ihr ein, „von kopflosen Reitern und aufgespießten Köpfen auf Zäunen. Ich hab da einiges gelesen über Jungs Archetypenlehre und die daraus entwickelte Märchentherapie, auch Freuds Traumdeutung, sehr interessant. Der Traum steht für einen Konflikt in deinem Leben.“

„Klingt irgendwie abergläubisch. Meine Schwester glaubt auch an solche Dinge, so wie früher mein Vater: dass Träume wahr werden. Ich kann damit nicht viel anfangen.“

„Ah, du meinst Präkognition“, wandte sie ein, „darüber hab ich auch gelesen. C.G. Jung erwähnte es ebenfalls, das geht schon in Richtung paranormale Phänomene, Träume von zukünftigen Ereignissen. Wenn man bedenkt, dass solche prophetischen Träume und Visionen in allen Religionen vorkommen, finde ich es nicht einmal so abwegig. Ich glaube eigentlich schon daran und bestimmt erlebte schon jeder irgendwann einen solchen besonderen Traum, ist ihm vielleicht nur nicht aufgefallen oder dann hat er es gleich vergessen.“

„Ja? Meinst Du wirklich?“

Er schwieg und sann über ihre Worte nach, während sie ihn prüfend betrachtete und sich fragte, ob sie nicht bereits zu viel verraten hatte. Sie erzählte ihm kaum etwas von sich. Er war nicht der Typ für solche tiefschürfenden Gespräche. Nur gerade jetzt war es anders, durch den Tod des Türken beeindruckt.

„Ich hatte da wirklich einmal einen Traum“, begann er zögerlich, „den hab ich nie vergessen. Da war ich noch ein Junge, vielleicht zehn. Ich ging im Traum eine Straße entlang. Da kam auf einmal ein gelber Bus auf mich zu und wollte mich überfahren. Solche Busse gab es aber erst viel später, nicht in meiner Jugend. Wie konnte ich also von einem derartigen Bus träumen?“

„Mmm, das ist wirklich spannend, du hast also doch einen präkognitiven Traum gehabt!“

„Es geht noch weiter. Nach ein paar Jahren wurden eben diese Busse eingeführt und so unglaublich es klingt: Ich wurde tatsächlich fast von einem solchen Bus überfahren. Ich sah es aber irgendwie kommen, deshalb konnte ich rechtzeitig ausweichen. Ich hab zwar nie an so was geglaubt, dafür bin ich zu sehr Realist, aber wenn ich über dieses Erlebnis nachdenke, muss es da irgendwie doch noch was geben. Es ist ja nicht so, dass ich nicht an Gott glaube.“

„Das war wirklich ein besonderes Erlebnis. Die Wissenschaft sucht nach natürlichen Erklärungen dafür, in der Gehirnforschung und Parapsychologie, aber ich persönlich glaube, dass es mit unserer unsterblichen Seele zusammenhängt. Die Seele nimmt wahr, über Raum und Zeit hinweg. Und wenn der Mensch stirbt, dann lebt die Seele weiter. Dieser Traum rettete dir wahrscheinlich das Leben. Einen Sekundenbruchteil später hättest du womöglich tot sein können, doch durch den Traum vorbereitet, konntest du schneller reagieren.“

Ihren Vater auf der weißen Couch betrachtend, dachte sie auf einmal an ihren Traum, wo er auch so dalag, auf einer weißen Schneemauer, seine Augen schneeblind geworden, nicht mehr von dieser Welt. Er hörte nicht mehr ihr Weinen, sah nur noch das Licht.

„Aber was bedeutet bloß mein Traum mit den kopflosen Hühnern?“

„Es war nur ein Alptraum, keine Sorge.“

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